Predigt zum Gottesdienst in der Erlöserkirche am 2. Juni 2024

Zur Freiheit berufen

Es gibt wunderbare, aus Holz gemachte Spielzeuge und Spiele. Ich liebe sie. Wie ich neulich festgestellt habe, kennen Sie auch hier in Österreich das “Dog”, eine Variante des guten alten Eile mit Weile, das man allerdings mit Karten statt mit Würfeln spielt. In der Schweiz wird es von einer Stiftung in einer wunderbaren Holzversion hergestellt, so wie ich das Spiel hinten ausgelegt habe.

Ein anderes Spiel, das es schon in meiner Jugendzeit gab, ist ein Geschicklichkeitsspiel. Da ist auf einer Holzplatte eine Art Irrgarten angebracht, durch den eine kleine Stahlkugel gelenkt werden soll. Dazu ist die Holzplatte auf zwei beweglichen Achsen gelagert, so dass die Kugel -wenn man es denn geschickt genug macht- dem freundlicherweise genau vorgezeichneten Weg folgen kann. Das allein wäre ja schon schwierig genug. Nun gibt es da aber links und rechts von diesem Pfad Löcher, in welche die Kugel fallen kann. Dann ist Schluss und Aus, vorbei, zu Ende, verspielt und versagt. Leider habe ich dieses Holzspiel nicht, sonst hätte ich es mitgebracht. Aber vielleicht kennen Sie es ja. Oder können es sich ungefähr vorstellen. Auf der ausgedruckten Version meiner Predigt, die hinten ausliegt, habe ich die beiden Spiele abgebildet.

Ja, dieser zu balancierende Holzirrgarten mit eindeutigem Weg und manchen seitlich liegenden Gefahren. Viele Christen haben ein solches Gottesbild, so jedenfalls meine Erfahrung: Da gibt es genau einen Weg, den ich gehen soll. Genau einen Weg, den Gott für mich vorherbestimmt hat. Und wenn ich links oder rechts davon abweiche, habe ich versagt. Dieses Gottesbild halte ich für falsch. Es ist ein sehr anstren¬gendes, ja brutales Gottesbild, wenn man zum Beispiel unter knapp vier Milliarden Frauen auf dieser Welt genau die Frau finden muss, “die Gott für mich bestimmt hat.“

Mein Gottesbild ist vielmehr ein Bild von Freiheit. Darum soll es jetzt um das Thema Freiheit gehen.

In der ganzen Bibel -im AT und im NT- gibt es etwa 30 Stellen, in denen von “Freiheit” die Rede ist. Wenn man etwas weiter fasst und von “frei sein”, “frei machen” und ähnlich sucht, sind es noch viel viel mehr. Ein Hinweis darauf: Freiheit ist ein wichtiges Thema. Freiheit wird heute oft missverstanden als: Tu was Du willst. Verwirkliche Dich selbst. Wähle aus den vielen Möglichkeiten aus, was und wie Du willst. Jedenfalls so lange nicht die Freiheit anderer tangiert wird. Oder sagen wir mal: nicht allzu fest tangiert und eingeschränkt wird.

Freiheit ist ein vieldeutiges Wort. Heute weckt es kaum negative Assoziationen, aber das ist historisch nicht immer so gewesen. Freiheit konnte in der Vormoderne bedeuten, dass jemand einsam, seiner Umwelt schutzlos ausgeliefert war wie der bettelnde Vagant – in einer Zeit ohne Sozialstaat schon beinahe ein Todesurteil. Zusehends vom Individuum her konzipiert wurde Freiheit erst im 18. Jahrhundert, in der Schweiz verbrieft mit der Gründung des Bundesstaats 1848 und umfassend gar erst 1874, als Nieder¬gelassene und Nicht-Christen eingeschlossen wurden. Freiheit, so wie wir sie kennen und verstehen, ist also noch nicht einmal seit 150 Jahren so! Hier in Österreich wird es ähnlich sein.

Heute besteht die Gefahr, dass wir “Freiheit” mit “Willkür” verwechseln. Selbstbestimmung und Freiheit heisst aber eben nicht: Ich kann alles machen, was ich will, es steht mir alles zu. Meine Freiheit endet spätestens dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Und so langsam beginnen wir nun zu realisieren, dass die Multioptions¬gesellschaft nicht nur angenehm ist. Sondern dass auswählen auch ganz schön anstrengend ist. Ich erlebe das etwa in der Schule, wenn unsere Schülerinnen und Schüler ihre Wahlfachentscheide treffen müssen. Oder nach der Matura die Wahl des Studiums. Oder wir erleben es im Anmeldeverhalten für unsere Veranstaltungen in verschiedenen christlichen Werken, in denen ich tätig bin: man meldet sich immer später an und es kommt durchaus vor, dass sich einer anmeldet für ein Wochenende, sich keine 24 Stunden später wieder abmeldet, weil das alles zu viel sei – und zwei Tage später doch wieder zusagt. Vor zehn Jahren war das vor allem bei den jungen Leuten so, heute zieht es sich aber durch alle Altersgruppen, bis hin zu längst Pensionierten.

Es heisst, dass wir heute pro Tag etwa so viele Entscheidungen treffen wie Martin Luther in seinem ganzen Leben. In der ethischen Fachsprache gibt es nicht von ungefähr den Begriff von der “Last der Freiheit” oder gar vom “Fluch der Freiheit”.

Was verstehe ich in christlichem Sinn unter Freiheit? Ich spreche gerne von einer vierfachen Freiheit: Biblisch gesehen sind wir als Kinder Gottes zur Freiheit berufen. In vierfacher Hinsicht:

1) Freiheit vom Tod

Wir wissen: der Tod ist nicht das letzte. Es ist weder egal, ob wir leben oder nicht; ob wir unserem Leben irgendwann den letzten Schuss geben oder nicht; noch brauchen wir Angst haben vor dem Sterben. Aus dem Blick von Gottes Ewigkeits-Perspektive her ist unser Leben hier auf der Erde sogar nur eine vergleichsweise kurze Zeit. Das relativiert, was wir hier erleben – im Guten wie im Schlechten. Das macht frei.

Überlegen wir für uns selber, für unser Leben: Habe ich eher Angst vor dem Tod? Muss ich noch alles mögliche vorher erlebt haben? – Oder ist es eher umgekehrt, dass ich mich geradezu nach dem Tod sehne?.

2) Freiheit von Sünde und Schuld

Durch Versöhnung und Vergebung in Jesus braucht uns unser oft genug falsches Verhalten nicht zu lähmen. Wir wissen, dass uns vergeben ist. Und damit können auch wir selber vergeben. Und das macht frei. Allerdings habe ich gerade selber vor einem Jahr gemerkt, wie anstrengend das sein kann und wie viel Zeit das unter Umständen braucht. Ich hatte hier im Gottesdienst kurz erwähnt, dass ich vor 25 Jahren einige Monate in einer evangelischen Bruderschaft mitgelebt habe, in der sich über Jahrzehnte ein übles Missbrauchssystem etabliert hatte. Glücklicherweise war ich nicht mehr von sexuellem Missbrauch betroffen, aber Verletzung der Privatsphäre und geistlicher Missbrauch habe ich selber erlebt. Und jetzt, ein Vierteljahrhundert später, wurde endlich alles fachmännisch aufgearbeitet. Da realisierte ich: Vergebung üben, Vergebungs–arbeit leisten, das ist meine Aufgabe. Da kann ich nicht auf Einsicht oder Entschuldigung der damaligen Täter zählen. So ging ich und gehe ich nach und nach Schritte der Vergebung. Ich merke, wie wichtig und wertvoll das ist. Und ich merke, wie befreiend das ist.

Überlegen wir für uns selber, für unser Leben: Gibt es etwas, das ich vor Gott ablegen sollte? Wäre einmalige oder regelmässige Seelsorge hilfreich? Dann wäre es doch gut, wenn ich mir einen Seelsorger, eine Seelsorgerin suche. Wem kann oder muss ich selber vergeben, weil jemand an mir schuldig geworden ist?

3) Freiheit vom Gesetz

Wir haben einen Gott, der uns zwar etwa in den 10 Geboten “Gesetze” gibt. Aber eher im Sinn von hilfreichen Leitplanken, denn von stur einzuhaltenden Gesetzen. Es geht Gott nicht um Gesetzlichkeit. Die Gesetze sind für den Menschen da, dass sie ihm helfen, ein gelingendes Leben zu führen. Es ist nicht umgekehrt, dass der Mensch da ist, um Gesetze einzuhalten. Wenn ich mich innerhalb dieser Leitplanken bewege, habe ich viele Möglich¬keiten, mein Leben zu gestalten. Das macht frei.

Überlegen wir für uns selber, für unser Leben: Mal wieder die 10 Gebote studieren. Was spricht mich besonders an?

4) Freiheit zur Verantwortung

Und jetzt kommt’s. Jetzt kommt der Teil, der oft genug auch von frommen Christen, von den erlösten Christen vergessen geht. Die ersten drei Dimensionen von Freiheit heissen nun nicht, dass wir tun und lassen können, was wir wollen. Es gibt eben nicht nur eine dreifache “Freiheit von…” Es gibt auch den vierten Aspekt der “Freiheit zu…” Dass wir frei von Gesetz, Sünde und Tod sind, macht den Weg parat, nach vorne zu schreiten. Das führt zur Freiheit zur Verantwortung. Wir müssen unser Tun vor Gott verantworten.

Paul Tillich, ein deutscher Theologe des 20. Jahrhunderts hat einmal formuliert: Wir Menschen sind weder Autonom (= selbständig auf uns selber gestellte Einzelwesen) noch Heteronom (= in einem gewisser¬massen sozialistischen Miteinander aufgehend), sondern wir sind Theonom (= auf Gott hin). Und ich ergänze hier: Wir sind auf Gott hin. Und Gott ist die Liebe. Wir sind zur Freiheit berufen, heisst es im Galaterbrief. Ich lese aus dem fünften Kapitel:

aus Galater 5

Die Befreiung in Christus

5,1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! […]

Die Erfüllung des Gesetzes

13 Denn zur Freiheit seid ihr berufen worden, liebe Brüder und Schwestern. Auf eins jedoch gebt acht: dass die Freiheit nicht zu einem Vorwand für die Selbstsucht werde, sondern dient einander in der Liebe! 14 Denn das ganze Gesetz hat seine Erfüllung in dem einen Wort gefunden: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!

Es ist nicht eindeutig, ob Paulus den Brief an christusgläubige Kelten oder die Bewohner der Landschaft Galatien gerichtet hat. Aus dem Inhalt geht jedoch klar hervor, dass es sich bei den Adressaten um Heidenchristen handelt, die von Judenchristen zur Annahme der Beschneidung gedrängt wurden. Dass in der Landschaft Galatien Juden erst im 5. Jahrhundert nachzuweisen sind, spricht für die Möglichkeit, dass Bewohner der römischen Provinz Galatien als Adressaten gemeint sind. Die Landschaft Galatien war eine Hochebene rings um Ankara.

“Zur Freiheit hat uns Christus befreit!” so stellt Paulus am Anfang von Kapitel 5 klar (V. 1). Das ist -etwas einfach gesagt- die Hauptbotschaft des ganzen Briefes. Nicht Beschneidung, um zunächst Jude zu werden und sich dann an alle jüdischen Gesetze zu halten, ist wichtig oder gar Voraussetzung, um rechter Christ zu sein. Wenn wir in Jesus leben ist Beschnittensein oder Unbeschnittensein völlig irrelevant (V. 6). Es geht allein um den Glauben, der sich durch die Liebe als wirksam erweist.

Befreiung im christlichen Sinne kann nie heissen, dass wir uns selbst befreien und makellose Supermenschen werden müssen, dass wir vor uns selbst davonlaufen müssen, weil wir nie ohne Schatten sind. Denn wir können noch so schnell rennen – unseren Schatten nehmen wir immer mit. Vielmehr können wir zu unserem Schatten stehen. Das Dunkle, das in uns ist, wahrnehmen und eingestehen. Müssen nicht davonlaufen, weil wir wissen, dass wir von Gott Vergebung erfahren und befreit sind. Befreit schliesslich zu einer Haltung der Liebe, einer Wahrnehmung der Verantwortung, die uns zu wirklich freien, von Gott geliebten und erst so wirklich liebens¬fähigen und liebenswerten Christen¬menschen machen kann.

“Denn zur Freiheit seid ihr berufen worden, liebe Brüder und Schwestern. Auf eins jedoch gebt acht: dass die Freiheit nicht zu einem Vorwand für die Selbstsucht werde, sondern dient einander in der Liebe!” (V. 13).

Freiheit ist kein Selbstzweck. Freiheit soll nicht zur Selbstsucht werden. Das ist eine grosse Gefahr. Freiheit soll zum Dienst an den anderen, zum Dienst aneinander, zum Dienst an der Gesellschaft führen. Mir ist dieser Vers 5,13 vor einigen Jahren zum persönlichen Lebensmotto geworden. Zusammen-gefasst im Satz: “Zur Freiheit Berufene – dienet!” Oder für mich persönlich formuliert: “Zur Freiheit Berufener – diene!”

Das gibt dann Freude zu Entscheidungen. Und entschieden leben macht frei. Es gibt eine gewisse Kraft, Stärke, Vollmacht. Die dann auch andere wahrnehmen. So in vierfacher Freiheit als Christen¬mensch leben gibt Vollmacht. Denn Freiheit und Vollmacht haben miteinander zu tun. Von Jesus heisst es, dass er mit Vollmacht gelehrt hat (Markus 1,21-28). Das griechische Wort “exusia”, welches oft mit “Vollmacht” übersetzt wird, bedeutet auch “die Freiheit zu handeln, zu bestimmen, zu verfügen” oder “das Recht und die Fähigkeit zu handeln.” Die Menschen um Jesus herum spüren, dass da einer die innere Freiheit und die Fähigkeit hat, wahrhaftig zu sprechen und zu handeln.

Wenn wir so verstanden aus vierfacher Freiheit heraus handeln und in Liebe dienen, dann geschieht das mit Vollmacht. Das spürten nicht nur die Menschen damals um Jesus herum. Das spüren auch die Menschen heute um uns herum.
Amen.

*

Ich bete mit zwei Versen aus Psalm 124:

Unsre Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen; * das Netz ist zerrissen und wir sind frei.
Unsre Hilfe steht im Namen des Herrn, * der Himmel und Erde gemacht hat.

Amen.


zwei Gottesbilder

Es gibt genau einen richtigen Weg
und dazwischen lauern gefährliche,
tödliche Fallen.

Das Leben als Christ ermöglicht
viele Varianten
innerhalb gewisser Leitplanken.