Andacht aus der reformierten Erlöserkirche, Wien-Favoriten, 19. April 2020
mit Pfr. Johannes Wittich


Musik zur Einstimmung
Lukas 12, 32: 

Jesus Christus spricht: Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es hat
eurem Vater gefallen, euch das Reich zu geben.

Begrüßung:

Eine „kleine Herde“ sind wir im Moment, wenn wir am Sonntag
Gottesdienst feiern: hier, in der fast leeren Erlöserkirche. Und auch zu Hause, wenn wir allein oder mit denen, „die im selben Haushalt wohnen“, wie es im Moment so schön heißt, eine Andacht lesen. Eine kleine Schar, an den Orten, an denen wir gerade sind. Aber eine große Schar, wenn wir alle zusammennehmen, die jetzt gerade in Gedanken und Gebeten miteinander verbunden sind.

Die „kleine Schar“, die Jesus in diesem Satz anspricht, waren die ersten Jüngerinnen und Jünger, die das Gefühl hatten: ich nehme es mit dem Glauben ernst – aber wir sind nur so wenige im Vergleich mit den Vielen da draußen in der Welt, die unseren Glauben nicht teilen. Gerade in dieser Zeit jetzt, im guten Zusammenspiel der Menschen gegen das Virus, merken wir: wir sind mehr, als wir gedacht haben, die versuchen, an einem Strang zu ziehen.

Wir sind mehr, als wir denken – das gilt auch, wenn wir in der Gegenwart Gottes feiern, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Gebet Psalm 46, 2-12:

2 Gott ist uns Zuflucht und Schutz, eine Hilfe in Nöten, wohl bewährt.
3 Darum fürchten wir uns nicht, wenn die Erde schwankt und die Berge wanken in der Tiefe des Meeres.
4 Toben mag, schäumen mag sein Wasser, Berge mögen erzittern, wenn es sich bäumt.
5 Eines Stromes Arme erfreuen die Gottesstadt, die heiligste der Wohnungen des Höchsten.
6 Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken, Gott hilft ihr, wenn der Morgen anbricht.
7 Nationen toben, Königreiche wanken, er lässt seine Stimme erschallen, und die Erde erbebt.
Der HERR der Heerscharen ist mit uns, eine Burg ist uns der Gott Jakobs.
9 Kommt und schaut die Taten des HERRN, der Entsetzen verbreitet auf Erden.
10 Der den Kriegen Einhalt gebietet bis ans Ende der Erde, der Bogen zerbricht, Speere zerschlägt und Wagen im Feuer verbrennt.
11 Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin, erhaben unter den Nationen, erhaben auf Erden.
12 Der HERR der Heerscharen ist mit uns, eine Burg ist uns der Gott Jakobs.

Lied: Evangelisches Gesangbuch 324, 1-3 und 7: Ich singe dir mit Herz und Mund

1) Ich singe dir mit Herz und Mund,
Herr, meines Herzens Lust;
ich sing und mach auf Erden kund,
was mir von dir bewußt.

2) Ich weiß, daß du der Brunn der Gnad
und ewge Quelle bist,
daraus uns allen früh und spat
viel Heil und Gutes fließt.

3) Was sind wir doch? Was haben wir
auf dieser ganzen Erd,
das uns, o Vater, nicht von dir
allein gegeben werd?

7) Ach Herr, mein Gott, das kommt von dir,
du, du mußt alles tun,
du hältst die Wacht an unsrer Tür
und läßt uns sicher ruhn.

Lukasevangelium 21, 29-33:

29 Und er erzählte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle anderen Bäume!
30 Wenn sie ausschlagen, und ihr seht es, wisst ihr von selbst, dass der Sommer schon nahe ist.
31 Genau so sollt ihr, wenn ihr dies alles geschehen seht, wissen, dass das Reich Gottes nahe ist.
32 Amen, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bevor dies alles geschieht.
33 Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.

Die Zeichen der Zeit erkennen, und daraus lernen. Dazu fordert uns das Gleichnis Jesu heraus. Zeichen der Zeit? Davon haben wir im Augenblick mehr als genug. Entwicklungen, die wir nicht vorhersehen konnten, mit denen niemand gerechnet hat. Und es stellt sich die Frage: Was will uns das sagen? Oder: Will es uns überhaupt etwas sagen?

In Krisen und aus Krisen entsteht Neues. Das ist eine banale Weisheit. Auch jetzt merken wir, wie sich, trotz aller Einschränkungen, auch viel Gutes entwickelt. Weil Menschen eben dazu gezwungen sind, ein bisschen besser aufeinander zu schauen, rücksichtsvoller miteinander umzugehen. Und die Frage ist schon vielfach gestellt werden: wird das so bleiben, wenn die Krise einmal vorbei ist, all dieser Gemeinschaftssinn, das gegenseitige Helfen, und auch die viele Kreativität bei der Suche nach Lösungen für das Bewältigen des eingeschränkten Alltags?

Lernen in der Krise, das tun im Augenblick auch Tausende von Schülerinnen und Schülern. Mit ihnen ihre Lehrerinnen und Lehrer, aber auch ihre Eltern. Lernen, ohne die Schule oder das Klassenzimmer zu betreten, über Social Media, Lernplattformen, Videokonferenzen, und was es sonst noch für Möglichkeiten gibt. „Social Distancing“ führt zu „Distance Learning“, also Lernen ohne physische Anwesenheit. Als Lehrer kann ich sagen: Es ist schon komisch. Lernprozesse haben ja immer auch mit Beziehung zu tun, mit persönlich Vermitteln, Begeistern, Spüren, was interessiert und in welche Richtung die Schülerinnen und Schüler sich geistig bewegen wollen. Jetzt stehen der Computer und das Internet zwischen mir und meinen Schülerinnen und Schülern. Manche von ihnen, so hat es ein Kollege von mir ausgedrückt, missverstehen „distance learning“ auch als „Distanz zum Lernen“, nützen es also zur schulischen Aufwandminimierung.

Wobei dies wirklich nur eine verschwindende Minderheit ist. Ich habe als ersten Auftrag nach Ostern meine Schülerinnen und Schüler gebeten, aufzuschreiben, wie es ihnen mit dieser neuen Form von Schule geht. Die Antworten waren überaus berührend. Sie haben erzählt von Freunden und Kolleginnen, die sie vermissen. Von Momenten, in denen ihnen die Decke auf den Kopf gefallen ist. Von Tätigkeiten, die sie neu entdeckt haben, von Karate über Videokonferenz bis zu langen Spaziergängen alleine im Wald, die sie so noch nie gemacht haben. Sie müssen sich neu orientieren, haben plötzlich viel mehr Eigenverantwortung, weil sie sich selbst ihre Lernpläne und, und ganz generell, ihre Tagesstruktur zusammenbasteln sollen. Und, nicht zuletzt, manche beginnen sich sogar nach ihren Lehrerinnen und Lehren zu sehnen. Weil, so hat es zumindest einer meiner Schüler ausgedrückt: „Meine Eltern sind beim Lernen viel strenger als alle Lehrer zusammen.“

Zeichen der Zeit deuten, um einen neuen Blick auf die Dinge zu bekommen? Ja, das tun wir augenblicklich. Reduziert in vielen Bereichen auf das Wesentliche merken wir wieder mehr, was wirklich wichtig ist. Jesus meint in seinem Bild vom Feigenbaum: an der Natur erkennen wir, welche Jahreszeit gerade ist. An den Zeichen der Zeit sehen, was Gott will – nicht ungefährlich, diese Analogie. Es gibt es auch jetzt religiöse Gruppen, die COVID – 19 als Vorboten des Weltuntergangs deuten. Oder gar als Strafe Gottes. Viel hört man von ihnen zum Glück nicht, wohl auch, weil fundamentalistische christliche Kreise im Moment auch diejenigen sind, die die Existenz einer Pandemie grundsätzlich leugnen.

Nein, Weltuntergangsstimmung ist ganz sicher nicht angesagt. Die Zeichen der Zeit deuten auf einen neuen Umgang miteinander hin. Und vielleicht auch auf einen neuen Blick auf das göttliche Wirken in Zeit und Geschichte: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“, sagt Jesus. Etwas „entschärft“ würde ich das so ausdrücken: Dinge ändern sich, gehen zu Ende, sind nie wieder so wie zuvor. Aber das Eigentliche und Entscheidende bleibt: Gottes Zusage, da zu sein. Für uns. Amen.

Gebet: Guter Gott,

die Zeichen der Zeit machen Angst.
Wir wissen aber, dass unsere Zeit in deiner Hand liegt.
Stärke diesen Glauben,
in uns,
und in all den Menschen,
die deine Nähe jetzt besonders brauchen.

Wir bitten dich
für die Überforderten,
durch Einschränkungen
und zu viel an Nähe zu Hause.
Für die Einsamen,
denen wichtige Kontakte fehlen.
Für die, die sich Sorgen machen,
um sich selbst und ihre Lieben.
Für die Überarbeiteten,
denen die Luft zum Verschnaufen fehlt.

Für uns alle bitten wir,
mitten drin in dieser besonderen Zeit,
die dir nicht entglitten ist,
in der wir uns immer noch ganz auf dich verlassen können.

Und gemeinsam beten wir:

Unser Vater im Himmel …

Segen:

Der Herr segne dich und behüte dich,
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig,
der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und schenke dir Frieden.
Amen.

Erlöserkirche Gospel Choir: Martin Seidl: Meine Zuflucht bist du (Psalm 91)
(Aufnahme aus der Riverside Church in New York City, mit freundlicher Genehmigung des Komponisten)