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Andacht der reformierten Erlöserkirche,
Wien-Favoriten, 3. Jänner 2021
von Pfr.i.R. Johann Ulreich


Lied: Evangelisches Gesangbuch 62, 1 + 3: Jesus soll die Losung sein

1) Jesus soll die Losung sein,
da ein neues Jahr erschienen;
Jesu Name soll allein
denen als ihr Zeichen dienen,
die in seinem Bunde stehn
und auf seinen Wegen gehn.

3) Alle Sorgen, alles Leid
soll der Name überwinden;
so wird alle Bitterkeit
endlich doch in Freude münden.
Jesu Nam sei Sonn und Schild,
welcher allen Kummer stillt.

Spruch: Kol. 3,17:

„Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.“

Begrüßung:

Wie ein neues Buch liegt das neue Jahr vor uns:
Seine Tage sind wie unbeschriebene Seiten,
Die darauf warten, dass unser Leben sie füllt.
In diesem ersten Gottesdienst wollen wir unsere Hoffnungen und Wünsche für das Neue Jahr vor Gott bringen,
ihm danken für das Vergangene und ihn bitten für das Kommende.
Gott geleite uns durch unsere Zeit,
Seine Hand möge uns auch durch das neue Jahr führen.

Gebet:

Gott/Herr Jesus Christus, wo du bist, weicht alle Angst.
So wollen wir mit dir dieses neue Jahr beginnen und aus deiner Hand nehmen,
was für uns darin ist an Freude und Leid.
Lass es ein Gnadenjahr werden,
in dem wir von deiner Güte leben und sie weitertragen.
Schenk uns mit dem Beginn des neuen Jahres auch einen neuen Anfang.
Erneuere uns durch dein Wort.
Gib uns den Mut, den wir brauchen.
Du machst alles neu.
Das lass uns spüren heute und jeden Tag. Amen

Lesung: Jakobus 4, 13-15:

13 Wohlan nun, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen –,
14 und wisst nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Dunst seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet.
15 Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.

Lied: Evangelisches Gesangbuch 395, 1 + 3: Vertraut den neuen Wegen

1) JVertraut den neuen Wegen,
auf die der Herr uns weist,
weil Leben heißt: sich regen,
weil Leben wandern heißt.
Seit leuchtend Gottes Bogen
am hohen Himmel stand,
sind Menschen ausgezogen
in das gelobte Land.

3) Vertraut den neuen Wegen,
auf die uns Gott gesandt!
Er selbst kommt uns entgegen.
Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen
in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen.
Das Land ist hell und weit.

Predigttext und Predigt: Lk 6,36 (=Jahreslosung 2021)

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“

Liebe Gemeinde!

Das war wohl der ungewöhnlichste Jahreswechsel seit Langem. Ein verrücktes Jahr liegt hinter uns, seitdem die Corona-Pandemie über uns hereinbrach.
Und noch mehr als zu jedem Jahresbeginn liegt die persönliche und gesellschaftliche Zukunft im Ungewissen.
Denn das Leben läuft eben derzeit so gar nicht in vertrauten Bahnen.
Werden wir zur Normalität zurückfinden, oder bleibt alles ganz anders?

Die Corona-Pandemie hat viele vermeintliche Gewissheiten erschüttert, denn sie hat gezeigt, wie verletzlich unser Leben ist und bleibt. So schauen viele von uns auch mit bangem Blick in das neue Jahr.
In diese Situation spricht die biblische Jahreslosung unserer Kirchen für das Jahr 2021 für mich besonders.
Sie stammt aus der sog. „Feldrede“ bei Lukas, der Parallele zur besser bekannten Bergpredigt bei Matthäus.
Jesus spricht auf einem Feld zu einer großen Menschenschar. „Und alles Volk suchte ihn anzurühren, denn es ging Kraft von ihm aus und heilte sie alle.“ (Vers 19)
Heilung geschieht hier durch die Kraft, die Jesus verströmt. Wo Menschen Gott begegnen und vertrauen, da erfahren sie eine solche heilsame, lebensförderliche Energie Gottes.
Wie dringend brauchen wir die, gerade in diesen Zeiten. Diese Energie wird dann näher beschrieben. Es ist die Kraft der Liebe:
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“
Die Energie der Barmherzigkeit – sie kann das Leben verändern. Und das brauchen wir dringend.
„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ – hat der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn am Beginn des Corona-Ausbruchs gesagt.
Das stimmt. Es stimmt immer, und es stimmt derzeit besonders.

Leider ist das gar nicht selbstverständlich.
Es herrscht allerorten „die große Gereiztheit“ (Bernhard Pörksen).
Dass bei manchen nach Monaten im Ausnahmezustand die Nerven angespannt sind, kann man – barmherzig! – verstehen. Nicht einfach tolerierbar ist es jedoch, wenn Medien, die als „soziale Medien“ doch dem Miteinander dienen sollen, zu Tummelplätzen für Hassreden, Beleidigungen, Untergriffigkeiten, Mobbing und Verschwörungen werden.

Rechthaberei und Unbarmherzigkeit werden keine Heilung in Krisen bewirken. Wir dürfen uns an diesen Ton nicht gewöhnen.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“
Jesus verbindet den Ruf zur Barmherzigkeit mit der schlichten Mahnung:
„Richtet nicht“, und das können wir alle im Alltag Tag für Tag umsetzen.
Wir dürfen uns aber auch nicht die Perspektive verrücken lassen.
Der bekannte Theologe Eugen Drewermann – im letzten Jahr feierte er den 80. Geburtstag – wurde einmal gefragt, welches Wunder in der Bibel seiner Meinung nach das größte sei. Er antwortete – etwas überraschend – mit der Begebenheit, die in Johannes Kap. 8 überliefert wird.
Da brachten die Pharisäer und Schriftgelehrten eine junge Frau zu Jesus, die hatten sie beim Ehebruch erwischt.
Die Frau, so sagten sie, solle gesteinigt werden, wie es das Religionsgesetz nun einmal verlange.
Die Ordnung, die diese Männer als fromme und getreue Gefolgsleute Gottes in ihren Köpfen hatten, war gültig, die Rechtslage klar: Ehebruch gehört entsprechend bestraft, aus, basta. Damit Recht Recht bleibt, muss die Verurteilung erfolgen: Steinigung, Tod.

Dieser klaren Ordnung durch Regeln stellt Jesus etwas entgegen, nämlich die Barmherzigkeit, mit der Gott uns ansieht. Das heißt: Gott nimmt Anteil, er fühlt mit.
Nach göttlichem Maßstab wäre zu sagen:
Seid barmherzig, das ist der Weg. Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Nicht nur jetzt in dieser Situation oder manchmal, sondern euer ganzes Leben lang, jeden Moment und grundsätzlich.
Und tatsächlich. Das Wunder geschieht: einer nach dem anderen lässt seinen Stein fallen und geht davon …

Jesus sagt uns im Namen Gottes:
Gott will, dass die Welt nicht auf ihre Vergangenheit festgelegt wird. Auch kein Mensch.
Wenn einer auf seine Vergangenheit festgelegt wird, kann das bedeuten, dass die Zukunft dieses Menschen verbaut wird.
Es kann sein, dass die Zukunft dieses Menschen gar nicht stattfindet, wie bei der Geschichte mit der Ehebrecherin.
Von ihren Anklägern wird sie auf ihre Vergangenheit festgenagelt. Ohne weitere Zukunft.
Seid barmherzig! fordert Jesus. Gebt dem Menschen Zukunft! Das lenkt den Blick ab von dem, was war.
Das schenkt neue Lebensmöglichkeit.

Dabei wird, wohlgemerkt, nichts, was geschah, gerechtfertigt! So manches Unrecht kann nicht rückgängig gemacht werden.
Aber die Barmherzigkeit lässt nicht zu, dass das Morgen vom Gestern abhängt.
Das ist wirklich neu.
Gottes neue Ordnung setzt sich darin durch, dass sie ausschließlich den Weg in die Zukunft öffnet.
Den Weg nach vorn. Nicht den Weg zurück.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“
Es ist kein moralischer Appell, den Jesus an seine Gemeinde richtet. Er erinnert uns vielmehr daran, dass wir alle immer wieder Barmherzigkeit und Gnade erfahren haben.
Aus dieser Kraft leben wir. Weil Gott die Liebe ist.

Und eben deshalb, weil wir Barmherzigkeit zuerst selbst erfahren und Gott „Vater“ nennen dürfen, deshalb können wir auch von dieser Kraft weitergeben.

Bei all den Herausforderungen, vor die wir im Jahr 2021 gestellt sind, brauchen wir in erster Linie Kräfte, die heilen.
Natürlich hoffen wir sehr auf einen medizinisch wirksamen Impfstoff, unbedingt.
Aber wir brauchen auch Heilung für unser Miteinander.
Darf man das sagen: Barmherzigkeit – das ist ein Impfstoff für die Seele? Ich jedenfalls will daran glauben.

Ein gesegnetes Jahr 2021!

Lied: Evangelisches Gesangbuch 171,1 + 4: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott

1) JBewahre uns, Gott, behüte uns, Gott,
sei mit uns auf unsern Wegen.
Sei Quelle und Brot in Wüstennot,
sei um uns mit deinem Segen,

3) Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott,
sei mit uns durch deinen Segen.
Dein Heiliger Geist, der Leben verheißt,
sei um uns auf unsern Wegen.

Fürbittengebet: 

Gott, unser Vater.
Wir Menschen leben aus deiner Gnade.
Du kennst uns, weißt um unsere Nöte und Ängste.
Du siehst die Menschen, die hungern, die ihr Land verlassen müssen,
die an Armut und Krankheit leiden.
Du siehst deine bedrohte Schöpfung, das veränderte Klima, die leidenden Wälder, die sterbenden Vögel und Insekten.
Das Jahr 2020 hat der Welt viel zugemutet und viele Veränderungen gebracht. Wir glauben, dass Du in allen Umbrüchen und Einschränkungen deine Hand nicht von uns nimmst,
dass wir in aller Bedrohung behütet werden, dass du diese Welt erlöst hast und erlösen willst.
Geh du mit uns, mit allen Menschen auf Erden, in das neue Jahr.
Wir leben aus deiner Liebe und Barmherzigkeit, mit der du uns verändern und leiten willst.
Lass uns dir vertrauen, mach du uns frei von Selbstüberschätzung und dem Kreisen um uns selbst.
Die Welt, Gott, deine Schöpfung ist angewiesen auf Liebe und Barmherzigkeit, wir leben aus deiner Barmherzigkeit.
Bleibe du bei uns auf den neuen Wegen.
Amen

Unser Vater  …

Segen:

Der Herr segne dich und behüte dich,

deinen Leib und deine Seele.

Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.

In Liebe und Güte kannst du leben.

Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.

Gott wird dich nicht aus seiner Hand gleiten lassen Tag und Nacht,
in Zeit und Ewigkeit.

Postludium: Martin Seidl, Vom Himmel hoch, da komm ich her von Johann Christian Rinck (1770 – 1846)