Gottesdienst aus der ref. Erlöserkirche,
Wien-Favoriten, 16. Mai 2021 (Exaudi)
mit Dr. Ulrich Körtner
Präludium : Martin A. Seidl: Präludium in Es von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)Begrüßung mit dem Wochenspruch aus Joh 12,32:Christus spricht: Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. Der Name des heutigen Sonntags – der 6. Sonntag nach Ostern – lautet „Exaudi“. Er leitet sich von der lateinischen Übersetzung von Psalm 27,7 her: „Exaudi, Domine, vocem meam, qua clamavi ad te“. Zu deutsch: „Höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und antworte mir!“. So betet jemand in äußerster Bedrängnis, ein Mensch, dem vielleicht sogar die Stimme versagt und der am Ende nicht mehr weiß, was er beten soll. Davon spricht auch Paulus in unserem heutigen Predigttext aus Röm 8. Und wir werden gleich einige Verse aus Psalm 27 gemeinsam beten. Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes. Psalm 27,1.7–11a:Der HERR ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? Gebet:Herr Jesus Christus, Lesung: Joh 7,37–39:Aber am letzten, dem höchsten Tag des Festes trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht. Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Lied Evangelisches Gesangbuch 351,1+7+8: IIst Gott für mich, so trete (vom Organisten gesungen)1) Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich; 7) Sein Geist spricht meinem Geiste manch süßes Trostwort zu, 8) Die Welt, die mag zerbrechen, du stehst mir ewiglich; Predigt: Röm 8,26–30:Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er tritt für die Heiligen ein, wie Gott es will. Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht. Luther 2017 Bei einem Verkehrsunfall ist eine alleinerziehende Mutter ums Leben gekommen. Sie hinterlässt drei minderjährigen Kinder. Was soll der Pfarrer den Angehörigen in seiner Traueransprache sagen? Wir wissen nicht, was wir beten sollen … Man möchte schreien. Der Tod eines nahestehenden Angehörigen nimmt uns stark mit. Dieses Sterben hat unser Leben durcheinandergebracht. Wir können nicht essen, nicht schlafen. Wir können keinen klaren Gedanken fassen. Die Tage vergehen wie ein böser Traum. Wir suchen Ruhe im Gebet, aber wir wissen nicht, was wir beten sollen. Wir finden keine Worte, können vielleicht nicht einmal mehr weinen. Wir sehen schrecklich Bilder im Fernsehen, Bilder von Corona-Toten aus Indien, wo schon das Holz für die Verbrennung der vielen Toten knapp wird und Ascheschwaden über den improvisierten Krematorien hängen. Wir sehen Bilder von Massengräbern in Brasilien, Bilder von Kriegsschauplätzen und Terroranschlägen. Wir sitzen vor dem Fernseher und fühlen uns hilflos und ohnmächtig angesichts dieser Bilder. Wir wissen nicht, was man tun soll, sagen soll, beten soll. Die Gesichter der Menschen: stumme Schreie der Verzweiflung. Ich erinnere mich an einen Krankenbesuch aus meiner Zeit als junger Pfarrer. Ein Mann mittleren Alters liegt auf der Intensivstation. Er hat einen Schlaganfall erlitten und ist nicht bei Bewusstsein. Auf meine Ansprache reagiert er nicht. Aber er stöhnt bei jeder Bewegung. Sein Körper ist schmerzverzerrt, ein einziger Aufschrei. Wohl kann ich für den Schwerkranken beten, aber gemeinsam mit ihm, ist nicht möglich. Sein stummes Leiden ist ein einziger Stoßseufzer. Gewiss, es wird viel gebetet, nicht nur in den Kirchen, sondern auch im Verborgenen. Aber die Welt ist ebenso voll von stummen Gebeten, von unaussprechlichen Seufzern. Es sind stumme Schreie nach Gott und nach Erlösung. Auch die Natur seufzt und ängstigt sich. „Denn wir wissen“, schreibt Paulus einige Verse vor unserem Predigtabschnitt, „dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“ Wie wir, sehnt sich die ganze Schöpfung nach Freiheit, nach Freiheit von der Macht der Zerstörung und des Todes. In Tankret Dorsts Schauspiel „Die Schattenlinie“, das 1995 im Akademietheater Wien uraufgeführt wurde, sagt Jennifer, die Tochter der Hauptfigur Malthus: „Wenn man bedenkt: Du siehst auf die bunte Wiese draußen, auf den Busch, und da hüpft ein Vögelchen und zwitschert so nett und alles sieht so schön aus für uns, und in Wirklichkeit ist es ein Schreckensort voller Angstgeschrei. Alle sind hungrig und gierig und lauern und bringen einander um auf schreckliche Weise.“ Es ist eben nicht nur der Mensch der Feind der Natur, sondern auch diese kann sich feindlich zeigen, übrigens auch gegenüber uns Menschen. Gegenüber dem unaussprechlichen Seufzen um uns herum stellen wir uns zumeist taub. Nehmen wir ein alltägliches Beispiel: Wir begrüßen einen Bekannten auf der Straße. „Wie geht es Ihnen?“ – „Danke, gut.“ Wir merken, das stimmt nicht. Die Körperhaltung oder die Augen verraten das Gegenteil, aber wir gehen nicht näher darauf ein. Es wäre zu anstrengend, schließlich haben wir nicht viel Zeit und noch anderes zu erledigen. Vielleicht fürchten wir auch, das Gespräch könnte peinlich werden. Wir möchten nicht zudringlich erscheinen. So gut kennen wir unsere Gegenüber schließlich gar nicht. Vielleicht nehmen wir aber die verborgenen Signale aus Gleichgültigkeit tatsächlich nicht wahr. „Wir wissen nicht, was wir beten sollen“: Wer seine Bedürfnisse und Nöte nicht artikulieren kann, braucht einen Fürsprecher oder eine Lobby. Wer keine Lobby hat, wird an den Rand gedrängt: Kinder, Menschen mit Behinderungen, Alte und Kranke, Menschen in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Frauen, die von ihren Partnern unterdrückt, misshandelt und am Ende vielleicht sogar umgebracht werden. Menschen, die unsere Sprache nicht sprechen und deren Kultur uns fremd ist. Menschen auf der Flucht oder in einem der Flüchtlingslager auf dieser Welt. „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist“, schreibt Paulus. Das ist unsere Hoffnung: Gott überhört das unaussprechliche Seufzen der Elenden und Geschundenen nicht. Er hat ein Ohr für den stummen Schrei der Gequälten und Hilflosen. Er hört im unaussprechlichen Seufzen, dessen die Welt voll ist, die Stimme des Geistes. Das aber ist der Geist Christi, der selbst gelitten hat und die Folgen der Sünden der Menschheit ertragen und getragen hat, bis zum Tod am Kreuz. Christus ist unser Fürsprecher vor Gott, neben dem es keiner anderen Fürsprecher oder Fürsprecherinnen bedarf, weder Heilige noch Maria als Muttergottes wie in der katholischen Kirche. Er ist unser Fürsprecher nicht nur in unserem Leiden, sondern auch in unseren Sünden, für die wir Gott nur um Vergebung bitten können, so wie es Zöllner im Gleichnis Jesu tut. Sein Geist schenkt uns, wenn er in unserem Herzen Platz greift, ein getröstetes Gewissen. Wenn wir in Selbstanklagen zu versinken drohen und uns unser Herz verdammt, macht uns der Geist Gottes gewiss, dass Gott größer ist als unser Herz (vgl. 1. Johannes 3,19f). „Wir wissen“, schreibt Paulus, „dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“ Bei Dietrich Bonhoeffer liest sich das in seinem persönlichen Glaubensbekenntnis an der Jahreswende 1942/43 so: „Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“ Sind wir bereit, uns alle Dinge zum Besten dienen zu lassen? Zweifel beschleicht uns: Können uns wirklich alle Dinge zum Besten dienen? Das kann doch in manchen Situationen nur gegen den Augenschein geglaubt werden. In solchen Momenten dürfen wir uns an unsere Taufe erinnern. Paulus schreibt ja, dass alle Dinge denen zum Besten dienen, die nach Gottes Ratschluss berufen sind. Das sichtbare Zeichen unserer Berufung aber ist unsere Taufe. Martin Luther hat sich in Glaubenskrisen und Lebenskrisen immer wieder daran erinnert: Ich bin getauft! Diese Tatsache hat ihn getröstet, wenn er in Anfechtung und Zweifel geraten ist. Daraus schöpfte er die Kraft und die Zuversicht, nicht an der Liebe Gottes zu zweifeln. Gewissheit und Vergewisserung im Glauben ist auch der Sinn der Erwählungslehre, die doch in der reformierten Tradition eine tragende Rolle spielt. Johannes Calvin hat sich dabei auf Paulus berufen. Nun könnte man den Erwählungsgedanken missverstehen, als spräche aus ihm ein übersteigertes Elitebewusstsein. Wir kennen genügend religiöse Gemeinschaften und Sekten, in denen der biblische Erwählungsgedanke auf diese Weise verstanden wird. Denen, die sich im sonstigen Leben unbeachtet und unbedeutend fühlen, verleiht das Erwählungsbewusstsein ein neues Selbstwertgefühl, bis dahin, dass man sich religiös und moralisch über andere erhebt und Allmachtsphantasien entwickelt, die sich aus der vermeintlichen Teilhabe an der Allmacht Gottes speisen. Wie Calvin allerdings einschärft, gehen solche Vorstellungen ganz an dem vorbei, was Paulus sagt. Immer wieder betont der Reformator von Genf, ausgerechnet der Umstand unserer Erwählung erinnere daran, dass wir von uns aus überhaupt keine besonderen Qualitäten und Leistungen vorzuweisen haben, die in irgendeiner Weise ein Elitebewusstsein rechtfertigen würden. Wenn es im Epheserbrief heißt, die Christen seien dazu bestimmt, vor Gott makellos und heilig zu sein, dann ist, wie Calvin erklärt, nicht von der Ursache oder dem Grund unserer Erwählung die Rede, sondern von ihrer Wirkung. Sie kann vielleicht sogar als Last empfunden werden, weil sie mit einem hohen Anspruch verbunden ist. Wie bedrückend können doch die hohen moralischen Maßstäbe sein, die mit solchem Erwählungsglauben in der Geschichte reformierter Kirchen und in der religiösen Erziehung verbunden sind. Oft genug ist der Trost, der im Erwählungsglauben liegt, durch religiöses Eiferertum und rigiden Moralismus verdunkelt worden. Paulus schreibt, wir seien von Gott berufen und erwählt, um dem Bilde Christi gleichgestaltet zu werden. So sollen wir uns, wie der dänische Philosoph Sören Kierkegaard geschrieben hat, „ins Leben hinauswagen, hinaus aufs Meer, und […] einen Schrei erheben, ob Gott ihn nicht hören wolle.“ Hinauswagen ins Leben aber müssen wir uns in der Solidarität mit den Anderen, insbesondere den Leidenden und Entrechteten, soll unser Glaube etwas anderes als eine Form des Heilsegoismus sein. Nur dann ist alles Beten und Reden von Gott wenn nicht schon wahr, so doch wahrhaftig. Und es sollte von Gott nicht mehr gesagt werden, als sich angesichts seiner Strittigkeit und der sich immer wieder einstellenden Anfechtung des Glaubens redlich vertreten lässt. So münden unsere Gebete in das hebräische Wort Amen, das Luther in seiner Nachdichtung des Vaterunsers so übersetzt: „Amen, das ist, es werde wahr.“ Im Buch der Sprüche Salomos ist einem König mit Namen Lemuel von Massa von seiner Mutter gesagt: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ (Sprüche 31,8). In der Nachfolge Christi sollen auch wir zu Fürsprechern und Anwälten derer werden, die keine Stimme haben. Calvin lag alles daran, den Trost des Glaubens hervorzukehren. Was im Neuen Testament über die Erwählung der Glaubenden geschrieben wird, das wird nach Calvin „deshalb gesagt, damit alle Kinder Gottes in vollem Vertrauen auf einen solchen Hüter ihres Heils nicht zweifeln, dass sie mitten unter den Gefahren in Sicherheit sind, ja, damit sie in der Bedrängnis von unermeßlichen Gefahren darauf vertrauen, dass ihr Heil außer Gefahr ist, weil es in Gottes Hand ist“. Das waren für Calvin und seine Glaubensgenossen nicht irgendwelche frommen Sprüche, sondern Halt und Trost in äußerster Bedrängnis und Verfolgung. Wie er selbst mussten viele Anhänger der Reformation aus Frankreich flüchten. Sie fanden Zuflucht in Genf, in Straßburg oder auch am Niederrhein. Die dortigen reformierten Gemeinden waren Gemeinden unter dem Kreuz. „Für jene, die keinen dauerhaften Aufenthaltsort, ja nicht einmal einen festen Platz hatten, an dem sie sich schlafen legen konnten, die weder einen gültigen Paß noch eine Aufenthaltsgenehmigung ihr Eigen nannten, wurde“ der Erwählungsglaube „zum Ausweis ihrer Identität.“ (Heiko A. Oberman) Unser Vertrauen auf Gott stützt sich nicht auf äußere Garantien oder Sicherheiten. Auch Glaubende geraten in Anfechtung. „Zweifeln“, so hat der evangelische Theologe Martin Kähler im 19. Jahrhundert geschrieben, „heißt in der Erde wurzeln, und glauben heißt auf die Himmelsleiter steigen. Zweifeln ist menschlich – denn bedenken und erwägen ist unser eigen; glauben ist übermenschlich – denn was wir glauben, ist nicht unser und nicht uns. Eben deshalb kann man nicht glauben, woran man will, sondern nur daran, woran es sich überhaupt glauben läßt; der Glaube wird uns angetan.“ Der Glaube wird uns angetan: Das klingt nach Gewalt oder Überrumpelung. Aber es geht genau darum gerade nicht, Menschen mit Gewalt zum christlichen Glauben bekehren zu wollen. Glaube lässt sich nicht erzwingen. Wir können uns auch nicht selbst zum Glauben zwingen, sondern er ist ein Widerfahrnis. So ist es von Kähler gemeint. Der Glaube ist eine Gnade, eine Gabe, ein Geschenk, das wir nur passiv empfangen können. Man kann natürlich auch sagen, der Glaube ist eine Zumutung. Er ist anstößig. Ich kann es aber auch so ausdrücken: Er ist eine Quelle des Mutes, nämlich des Mutes zu unserem fraglichen Sein, weil wir uns in allen Unsicherheiten des Lebens von Gott getragen wissen dürfen. Genau darauf läuft doch hinaus, was Paulus im Römerbrief schreibt. Ja, wir mögen bisweilen zweifeln und sogar verzweifeln und wissen in solchen Momenten nicht, was wir beten sollen. In solchen Augenblicken aber mögen uns vielleicht die folgenden Worte des 1964 verstorbenen Zürcher Schauspielers Ernst Ginsberg helfen, der sterbenskrank die folgenden Verse schrieb: Ich falte Interludium: Martin A. Seidl: Allemande von Georg Friedrich Händel (1685 – 1759)Gebet:Dreieiniger Gott, In diesem Vertrauen tragen wir in der Stille vor Dich, was jeder von uns auf dem Herzen hat. – Gebetsstille – Vaterunser Abkündigungen:Segen:Der HERR segne dich und behüte dich. Kanon: Martin A. Seidl: Gott segne dichPostludium: Martin A. Seidl: Al Post Comunio von Domenico Zipoli (1688 – 1726) |