Foto: Erlöserkirche

 

 

 

Gottesdienst aus der ref. Erlöserkirche,
Wien-Favoriten, 24. Jänner 2021
mit Pfr. Johannes Wittich


Vorspiel: Martin Seidl: Johann Caspar Ferdinand Fischer (1670-1746): Praeludium, Fuge et Finale in g
Spruch: Lk. 13, 29:

Und sie werden kommen von Osten und Westen und von Norden und Süden und bei Tisch sitzen im Reich Gottes.

Begrüßung:

So fasst es der Wochenspruch aus dem Lukasevangelium zusammen:
Wenn Gott sich zeigt, bleibt nichts, wie es war. Mit Gott und durch Gott kommt Veränderung in die Welt. Neues kann geschehen und entstehen. Schon jetzt kann etwas von diesem gemeinsamen „An-einem-Tisch-Sitzen“ im Reich Gottes gelingen, hier auf unserer Erde, in dieser Welt.

Im Glauben, dass diese Veränderungen durch Gott immer geschehen können, auch in diesem Augenblick, feiern wir Gottesdienst, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Gebet:

Oft genug, guter Gott,
stehen wir im Zentrum.
Unsere Gedanken kreisen um uns,
als wären wir Ausgang, Hoffnung und Ziel in einem.
Wir sind nicht fähig,
uns aus eigener Kraft aus dieser Verstrickung zu befreien.
Wir brauchen deine Hilfe, Gott, deine Nähe, dein Erbarmen.
Gott, du öffnest uns den Himmel
und schenkst uns deine Liebe.
Deine Zusage gilt:
Wir werden sitzen an deinem Tisch am Ende der Zeit.
Wir gehören aber auch jetzt schon zu dir.
Aus dem Kleinen kommen wir zu dir, guter Gott.
Das Große entzieht sich uns,
wir sehen nicht über das hinaus, was uns umgibt.
Wir brauchen dich für den Blick hinaus.
So suchen wir dich diese Stunde,
suchen dein Wort und deine Zusage:
Weise uns Herr, deinen Weg,
dass wir wandeln in deiner Wahrheit;
erhalte unser Herz bei dem einen,
dass wir deinen Namen fürchten.
Darum bitten wir durch Christus Jesus im Heiligen Geist.
Amen.

(nach Mark Meinhard)

Lied: Evangelisches Gesangbuch 412, 1.2.4:

1) So jemand spricht: Ich liebe Gott!
Und hasst doch seine Brüder,
Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott,
Und reißt sie ganz darnieder.
Gott ist die Lieb, und will, dass ich
Den Nächsten liebe, gleich als mich.

2) Wer dieser Erden Güter hat,
Und sieht die Brüder leiden,
Und macht den Hungrigen nicht satt,
Lässt Nackende nicht kleiden;
Der ist ein Feind der ersten Pflicht,
Und hat die Liebe Gottes nicht.

4) Wir haben einen Gott und Herrn,
Sind eines Leibes Glieder;
Drum diene deinem Nächsten gern;
Denn wir sind alle Brüder.
Gott schuf die Welt nicht bloß für mich;
Mein Nächster ist sein Kind, wie ich.

Predigttext: Psalm 69, 1-4:

1 … Von David.
2 Hilf mir, Gott, das Wasser
steht mir bis zum Hals.
3 Ich bin versunken in tiefem Schlamm,
wo kein Grund ist.
In Wassertiefen bin ich geraten,
und die Flut reisst mich fort.
4 Ich bin erschöpft von meinem Rufen,
meine Kehle brennt,
meine Augen ermatten,
da ich harre auf meinen Gott.

Liebe Schwestern und Brüder!

Wie fühlt sich das an, wenn einem das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals steht. Wenn man am Morgen aufwacht, in einem feuchten Schlafsack, in Kälte und Schnee, nur ein paar zerrissene Zeltplanen um einen herum. Wenn man dann aufsteht und die Füße im Schlamm versinken, mitten im Zelt, das eigentlich Schutz und Trockenheit bieten sollte. Wenn man sich dann umsieht, als Vater oder als Mutter, die Familie, die Kinder sieht, zitternd vor Kälte, hungrig, verängstigt. Oder man selbst ein Kind ist, das sich allein durchschlagen muss, ohne Eltern. Wenn man sich dann aufraffen muss für einen neuen Tag, trostlos wie alle davor, geprägt vom Kampf um die einfachsten Dinge: Essen, Trinkwasser, eine Dusche, medizinische Versorgung. Und vor Allem: wenn keine Hoffnung besteht, dass sich dieser Wahnsinn jemals ändern wird. Alle Bitten, alles Rufen um Hilfe – umsonst. Die Hoffnung verloren, die Gedanken dunkel.

Wie sich das anfühlt, beschreibt der Beter des 69. Psalms. Wie sich das anfühlt, können uns auch die Menschen in den Lagern auf Lesbos in Griechenland beschreiben. Der Psalmbeter ist verzweifelt, weil er den Eindruck hat: niemand hört mir zu. Niemand will sehen, wie es mir geht. Niemanden kümmert es, was sich gerade bei mir tut.
.
Was sich seit Monaten schon in Kara Tepe und anderen Lagern abspielt, wissen wir und reichlich viele Andere auch. Die Bilder werden uns täglich frei Haus geliefert. Horrorbilder, die blankes Entsetzen auslösen.

Wir hören, dass diese Bilder auch politische Verantwortungsträger nicht unberührt lassen. Die es aber dann trotzdem schaffen, ihr Mitgefühl einer angeblich notwendigen politischen Räson zu opfern.

So geht das einfach nicht! Nicht in einem Land, das christlich geprägt ist, einem „Abendland“, das sich christlich nennt. „Wer dieser Erden Güter hat, und sieht die Brüder leiden, und macht den Hungrigen nicht satt, lässt Nackende nicht kleiden;
der ist ein Feind der ersten Pflicht, und hat die Liebe Gottes nicht,“ hat Christian Fürchtegott Gellert im Lied für den heutigen Sonntag gedichtet. Gellert hat vor 250 Jahren gelebt – seine Zeilen könnten nicht aktueller sein. Nur Betroffenheit ohne entsprechende Taten ist eine Bankrotterklärung des Glaubens.

Möglichkeiten, zumindest für einige Menschen in Kara Tepe etwas zu tun, gibt es reichlich. Wohnraum, Betreuung und Unterstützung, zumindest für Kinder, Familien, Frauen, stehen in ganz Österreich zur Verfügung. Eine breite Koalition von gesellschaftlichen Gruppen, Kirchen, politische Parteien, selbst der Bundespräsident, haben sich für eine Aufnahme von Menschen aus den Lagern ausgesprochen, als Notmaßnahme, um das allerschlimmste Leid zu lindern. Andere europäische Länder haben Initiative gezeigt und eine beschränkte Zahl von Hilfesuchenden aufgenommen. Und bei uns? Nach wie vor geschieht nichts. Absolut gar nichts.

Uns alle, die das entsetzt, wird nichts anderes übrigbleiben, als hartnäckig zu weiter den Menschen auf Lesbos eine Stimme zu geben. Mahnwachen und Demonstrationen gibt es ja zum Glück einige. Denn es geht nicht um irgendeine politische Entscheidung unter vielen. Es geht nicht um eine grundsätzliche Debatte über Migrationspolitik. Es geht um einen Notfall und um Nothilfe. Es geht um den Kern unseres Glaubens. Um die Glaubwürdigkeit dessen, was sich „christlich“ nennt.

„Gott schuf die Welt nicht bloß für mich; mein Nächster ist sein Kind, wie ich.“ Wie recht Christian Fürchtegott Gellert doch hatte!.

Amen.

Gebet:

Es wird die Zeit kommen, guter Gott,
da wirst du die Deinen an einem Tisch versammeln.
Wir bitten dich heute für uns:
Lass dein Wort und deine Hoffnung stark in uns werden.
Dass wir befreit werden von einem Blick, der nur uns selbst gilt.
Schenke uns Kraft und Mut das zu tun,
das vor uns liegt: den Nächsten im Blick.
Sende zu den Kranken, Armen und Hoffnungslosen Menschen,
die sie stützen, pflegen und ihnen erzählen können vom Reiche Gottes.
Stütze die, die dich nicht kennen und führe sie zur Erkenntnis deiner Größe.
So können auch sie etwas weitergeben von der Hoffnung,
die sich in deinem Namen findet.
Wenn wir nicht mehr weiterkönnen, gibt uns die Kraft,
uns dir ganz zu überantworten:
ohne Sicherheitsnetz und ohne Rückversicherung.
Alle unsere Bitten, all unseren Dank legen wir in das Gebet,
welches uns dein Sohn selbst gelehrt hat:
Unser Vater im Himmel …

(nach Mark Meinhard)

Segen:

Der Herr segne dich und behüte dich,
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig,
der Herr hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Amen.

Kollekte:

Flüchtlingshilfe Griechenland

Nachspiel: Martin Seidl: Martin Seidl: Johann Sebastian Bach: Praeludium in Es, BWV 552

(aufgenommen in der Kirche St. Stephanus, Lalling)