Gottesdienst aus der reformierten Erlöserkirche,
Wien-Favoriten, 26. Juli 2020
mit Pfr. Johannes Wittich
Orgelvorspiel: Martin Seidl: Felix Mendelssohn-Bartholdy: Allegro moderato maestosoSpruch: Sprüche 2,6:Denn der HERR gibt Weisheit, aus seinem Mund kommen Erkenntnis und Einsicht. Begrüßung:Ja, Erkenntnis und Einsicht können wir brauchen, in unsicheren, Mitten drin stehen wir, als Menschen, die verantwortlich mit den Herausforderungen umgehen möchten, als Christinnen und Christen, die etwas davon zeigen wollen, was ihren Glauben ausmacht: das wir Quelle der Weisheit nicht bei uns, sondern bei Gott sehen, aber dann trotzdem nach seiner Weisheit für uns fragen. Eine Weisheit, die Klarheit schafft, unser Handeln leitet, Vertrauen und Zuversicht entstehen lässt. Eine Weisheit, die mehr ist als reines Verstehen, die geschenkt wird, wenn wir zusammen-kommen, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Gebet:Gnädiger Gott, (Haike Gleede) Lied: Evangelisches Gesangbuch, 279, 1-2.7: Jauchzt, alle Lande Gott zu Ehren1) Jauchzt, alle Lande, Gott zu Ehren, 2) Dir beuge sich der Kreis der Erde, 7) Die ihr Gott fürchtet, ich erzähle: Predigt: Markus 10, 46 – 5246 Und sie kommen nach Jericho. Und als er und seine Jünger und etliches Volk von Jericho weiterzogen, sass Bartimäus, der Sohn des Timäus, ein blinder Bettler, am Weg. Liebe Gemeinde! So klein und unbedeutend unsere Erlöserkirche auch sein mag – sie hat etwas, was andere Kirchen eher selten haben, nämlich: zwei Adressen. Wir befinden uns im Gebäude Wielandplatz 7, das an der Ecke zur Wielandgasse 9, unserem Kircheneingang, liegt. Eine Straßenecke, die vor einigen Wochen ungeahnte Popularität erreicht hat. Unser Haus war in allen Medien zu sehen, als es zu Auseinandersetzungen zwischen einer pro-kurdischen Demonstration und deren Gegner gekommen ist. Unsere Kirche war zu sehen – allerdings ohne, dass irgendwer erkannt hätte, dass es sich um eine Kirche handelt. Selbst mitten drin im ganzen Trubel, als wieder einmal der ganze Häuserblock abgesperrt war und ich einen Polizisten gebeten habe, ob ich, als Pfarrer, bitte zu meiner Kirche gehen dürfe, kam die Antwort: „Welche Kirche?“ Ich habe dann gesagt: „Ich würde gerne in mein Büro gehen.“ Da ist mir dann erlaubt worden, über die Absperrung zu klettern. Unser Erlöserkirche – Eckhaus hat aber auch wirklich eine interessante Geschichte. Es war einmal ein typisches Gründerzeit-Wohnhaus, bis es eben im Zweiten Weltkrieg von einer Bombe getroffen wurde. Ein späterer Vikar unserer Gemeinde, der hier im Grätzl aufgewachsen ist, wusste zu berichten, dass im Keller des ursprünglichen Gebäudes, also genau da, wo jetzt unser Kirchenraum ist, sich ein Boxclub befunden hat. Wo wir heute friedlich zusammenkommen, gab es also damals eine Tracht Prügel. Und unser Nachbarpfarrer Thomas Dopplinger hat im Zuge von Recherchen zur Geschichte der Synagoge am Humboldplatz, gleich einen Häuserblock weiter, herausgefunden, dass sich die Dienstwohnung des dortigen Rabbiners, bis zu seiner Flucht in den 1930er-Jahren nach Israel, im Vorgänger unseres Gebäudes befunden hat. (Er hat es sogar geschafft, mit der Tochter des Rabbis in Israel Kontakt aufzunehmen, die von ihrer Kindheit am Wielandplatz 7 erzählt hat.) Und nicht zuletzt ist ein Eckhaus in Wien, besonders in Arbeiterbezirken wie Favoriten, an sich schon etwas Besonderes. Sie hatten oft auch einen Eingang genau an der Ecke – nämlich den Eingang in ein Wirtshaus, das klassische Eckbeisl. Unmittelbar nach Errichtung unseres jetzigen Gebäudes ist in Protokollen des Presbyteriums zu lesen, dass es genau mit diesen Eckbeisln ein Problem gegeben hat: jede Ecke des Wielandplatzes hatte ein solches, bis auf unsere Ecke eben, und entsprechend viel angeheitertes Wirtshauspublikum ist dann auch nächtens an unserem damals funkelniegelnagelneuen Kirchengebäude vorbei gezogen – nicht ohne gelegentlich seine Spuren zu hinterlassen. Das hat das Presbyterium damals sehr empört – verständlicher Weise. Etwas eigenwillige Nachbarn zu haben, wie heute das Ernst-Kirchweger-Haus oder der Dosenbierausschank „Zum lustigen Heinz“ im Tankwart-Häuschen der ehemaligen Turmöl-Tankstelle im Nebenhaus Wielandplatz 9 sind also alles andere als neue Phänomene. Warum ich das erwähne? Weil ich es toll finde, dass unsere Erlöserkirche, „mitten im Leben“ steht, und damit auch ihre Mitglieder. An der Ecke in Favoriten, wie ein traditionelles Beisl. Nicht abgehoben, kein „spiritueller Ort“, der über allem schwebend und distanziert mit dem eigentlichen Leben nichts zu tun haben will. Sondern ein Ort, dessen „Spiritualität“, dessen Frömmigkeit sich aus dem Alltag speist. Aus dem Alltag mit all seinen Herausforderungen. Daher heute auch die Geschichte von Bartimäus, dem Blinden aus Jericho. Warum? Weil alles, was in der Geschichte wichtig ist, sich auf der Straße abspielt, vielleicht auch an einer Straßenecke. Die Straße ist der Ort, an dem der Blinde bettelt, seinen Lebensunterhalt verdient. Durch die Menschen, die in Jericho auf der Straße sind, mit ihren täglichen Geschäften und Besorgungen. Bartimäus klinkt sich sozusagen in deren Leben ein, macht klar: was immer euch gerade beschäftigt – ich bin dann auch noch da. Ich, der Bedürftige, der Benachteiligte. Ich, der eure Hilfe braucht. Ich, der euch daran erinnert, vielleicht gerade auf dem Weg in die Synagoge zum Gottesdienst, vielleicht gerade den Kopf voller frommer Gedanken: der Ort eures Glaubens ist die Fürsorge für den Mitmenschen. Mitten drin im Alltag. Dort zeigt sich, was euer Glaube wert ist. Wie gut das mit der Großzügigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner von Jericho für den blinden Bartimäus geklappt hat, erfahren wir nicht. „Almosen zu geben“ war eine Selbstverständlichkeit, im Bewusstsein: eine andere Einnahmequelle gibt es für Menschen wie ihn nicht, in Zeiten lange vor dem, was wir heute als Sozialstaat kennen. Trotzdem: es war demütigend und erniedrigend für Bartimäus, so völlig auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen zu sein. Und so versteht man auch, dass der Blinde nur einen Wunsch hat, als Jesus ihn danach fragt: ich will wieder sehend werden. Er spricht ihn mit „Rabbuni“ an – mein Rabbi, mein Lehrer. Aber er will keine theologische Debatte führen, nicht einmal seelsorgerlich betreut werden. Er will gesund werden, wieder dazu gehören, für sich selbst sorgen können. Auf der Straße, da zählen nicht spirituelle Spitzfindigkeiten. Da zählt nur, ob einer mithalten kann oder nicht. Das will Bartimäus. Er sitzt ja auch nicht vor der Synagoge und appelliert an das Gewissen der Frommen. Er ist dort, wo das „normale“ Leben stattfindet. Allerdings: was er auch dort hat, ist sein Glaube. Der, so sagt, Jesus, der hat ihm dann auch geholfen. Kein Synagogenglaube, kein Kirchenglaube, sondern ein Glaube an der Straßenecke. Ein Glaube, der gerade dort mit dem Sohn Gottes rechnet. Jesus als diesen Sohn Gottes erkennt. Und sich sicher ist: er kann mir helfen. Viele haben in Jesus den, der er ist, nicht sehen können. Damals wie heute. Das waren und sind nicht unbedingt die Skeptiker. Das sind oft genug gerade die Frommen. Die sich in ihre eigene, abgeschlossene Welt zurück ziehen wollen. Ihren Privat-Jesus haben. Und damit die Welt da draußen, auf der Straße ausblenden. Wie gut, dass wir mit unserer Erlöserkirche unser geistliches, unser reformiertes „Beisl am Eck“ haben. Auch wenn uns das, was sich an unserem Eck so abspielt, nicht immer gefällt. Die Geschichte von Bartimäus ermutig uns, es Jesus gleichzutun. Ort des Glaubens ist oft genug die Straße. Oder der in Verruf geratene Wielandpark. Darum haben wir uns ja unmittelbar nach den Ausschreitungen bewusst im interreligiösen Dialog zu Wort gemeldet. Glaube bewährt sich in der Herausforderung. Im Moment, wo er hinterfragt wird. Im Dialog. Und, nicht zuletzt: im konkreten Helfen und Unterstützen. Und dazu müssen wir halt manchmal die Kirchenmauern verlassen. Die tatsächlichen, wie die geistlichen. Aber das wissen wir ja eh. Ich wollte das halt nur wieder einmal gesagt haben. Amen. Gebet: Unser Gott.Du warst als Gast auf der Erde (Roland Kupski) Unser Vater … Abkündigungen:Segen:Der Herr segne dich und behüte dich, Klaviernachspiel: Martin Seidl: Pater Anton Estendorffer: Aria 3ty Tonj |