Gottesdienst aus der reformierten Erlöserkirche,
Wien-Favoriten, am 10. Juli 2022
mit Dr. Markus Lerchi
Präludium: Martin A. Seidl: Praeludium et Fuga ex F-Dur von Johann Caspar Ferdinand Fischer (1656 – 1746)
Jesus unser Freund Liebe Gemeinde! Ich liebe die Bibel. Nicht einfach als Buch im Gestell, sondern um darin zu lesen. Es ist schlicht spannend, in Gottes Wort zu lesen. Insbesondere liebe ich die Psalmen. Ich lese und vor allem bete sie regelmässig. Nicht wie die Benediktinermönche ursprünglich einmal in der Woche. Aber doch regelmässig. Und zwar alle Psalmen. Vor Kurzem ist mir eine wunderbare Übersetzung von einem Teil aus Psalm 119 begegnet. Psalm 119 hat 176 Verse. Er besteht aus 22 Strophen zu je 8 Versen. Das poetisch Besondere daran ist, dass jeder Vers einer Strophe mit jeweils einem der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets beginnt. Es wird damit deutlich, dass es ein umfassender Lobpreis Gottes ist. Umfassender geht es gar nicht, da ja jedem Buchstaben eine Strophe gewidmet ist. Eine grandiose kreative Idee zum Gotteslob. Um eine solche Strophe geht es also jetzt. Es ist die 19. Strophe, die ungefähr unserem Buchstaben “U” entspricht. Solch ein poetisches Werk in eine andere und erst noch viel modernere Sprache zu übersetzen ist natürlich sehr schwierig und erfordert noch einmal Kreativität – ohne den inhaltlichen Sinn zu verlieren. Der vor ein paar Jahren verstorbene Theologe und Künstler Josua Boesch hat auf Zürichdeutsch übersetzt, und das muss ich jetzt im Original lesen. Keine Angst, nachher wechsle ich gleich wieder auf Hochdeutsch. Hört, wie er diese 19. Strophe des Psalm 119 übersetzt hat, in der alle 8 Verszeilen mit dem Buchstaben “U” beginnen: 145 Uf diich waartet ales i miir. Duu ghöörsch, wän i rüeffe. D spuure vo diir wett i scho nie verlüüre. d Psalme Züritüütsch – Us em Hebrèèische überträit vom Josua Boesch Auf Hochdeutsch haben wir die Version der Zürcher Übersetzung aus dem Jahr 2007 vorhin in der Lesung gehört: 145 Ich rufe von ganzem Herzen, erhöre mich, HERR, ich will deine Satzungen befolgen. (aus Psalm 119; Zürcher Bibel 2007) Was mir ganz besonders aufgefallen ist, dass in der schweizerdeutschen Übertragung von Josua Boesch von der Freundschaft Gottes die Rede ist: “duu laasch dini fründ nie im stich” – “Du lässt deine Freunde nie im Stich.” (Vers 146) – “Und dänn wüsst i s wider emaal tüütli, dass diini fründschaft beschtand hät für imer und eewig. (Vers 152) Oder auf Hochdeutsch rückübersetzt: “Und dann wüsste ich wieder einmal deutlich, dass deine Freundschaft Bestand hat für immer und ewig.” Kann man denn so reden, von einer Freundschaft von zu Gott hier zum Dichter und Beter dieses umfassenden Lobpsalms? Und zu mir, der ich heute diese Verse wieder bete? Gehen wir doch diesem Begriff etwas nach. I Was ist ein Freund? “Freund” ist heute ein inflationär gebrauchtes Wort geworden, vor allen wenn ich an die englische Form des “friend” denke, wie es etwa auf Facebook üblich ist. Man hat heute so seine viele Dutzend bis einige Hundert Facebook-“Friends”. Oder auf Youtube sind es eher die “Follower”, hm, die “Nachfolger”. Tönt ja ganz christlich. Ist aber wohl nicht so gemeint. Wer das online gut macht, bringt’s als “Influencer” locker auf eine sechs- oder gar siebenstellige Anzahl “Follower”. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: da schaffen es Teenager mit im Grunde genommen minimalem Aufwand, dass eine Million oder mehr andere, unter Umständen täglich in ihr Leben hineinschauen – und sie damit das Leben der Youtuber umgekehrt prägen. Ich muss manchmal lachen, wie ich da zu Beginn eines solchen Filmchens begrüsst werde mit “Hi youtube, what’s on?” – “Hallo Youtube, was läuft so?” – Wie wenn ich eine milliardenschwere Firma wäre. Oder “Hello internet, nice that you are joining again.” – “Hallo Internet, nett, dass Du wieder mit dabei bist.” – Wie wenn ich ein Computernetzwerk wäre. Und der Varianten mehr. All das gaukelt uns vor, dass wir ganz viele und ganz wichtige Freunde haben. Und dass wir zusammengehören. Soziologen, Erziehungswissenschafter und Psychologen heben aber immer deutlicher den Mahnfinger auf, in der Schweiz etwa der Kinderarzt und Buchautor Remo Largo oder der Psychologe Allan Guggenbühl. Kurz gesagt: wir haben heute durch die sogenannten sozialen Online-Medien unglaublich viele Kontakte, aber wenige Beziehungen, wenige Freundschaften. Oder in einem schönen Satz auf die Spitze getrieben: Wir leben im Zeitalter der kontaktreichen Beziehungsarmut. Oder noch kürzer auf neudeutsch: We are oversocializded, but underfriended. Zuviel Sozialkontakte – aber zu wenig Freunde. Viele Menschen, gerade junge Menschen und viele Männer im Besonderen, haben Mühe, echte Freundschaften aufzubauen und zu pflegen. Ich teile diese Beobachtung und habe mich gefragt, woran das den liegen mag. Schauen wir also mal genauer hin: Was ist ein Freund, eine Freundin? In einem Bedeutungswörterbuch kann man finden: Freund = Person, die mit einem Gegenüber in wechselseitiger Beziehung verbunden ist und ihm nahesteht. Mir sind in diesem Begriffsverständnis drei Dinge aufgefallen: da ist ein Gegenüber, ein wirkliches, echtes Gegenüber. Nicht virtuell. Sondern echt und leibhaftig. Schon Martin Buber hat einmal formuliert: alles wirkliche Leben ist Begegnung. Ein zweiter Aspekt: wechselseitige Beziehung. Freunde stehen in wechselseitiger Beziehung. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass man genau auf die Goldwaage legt, wer wem wie oft angerufen hat oder wer wem wie viele Weihnachtsgeschenke von welchem Euro-Wert gemacht hat. Da kann und darf die Gewichtung verschieden sein. Aber es ist klar, dass zu einer Freundschaft Gegenseitigkeit oder eben Wechselseitigkeit gehört. Und schliesslich als Drittes: diese Wechselseitigkeit bewirkt ein Nahestehen. Innerliche Verbundenheit gehört dazu. Man kann nicht mit hunderten oder gar tausenden von Menschen innerlich verbunden sein und ihnen nahestehen. Soziologen und Historiker sagen, dass wir Menschen fähig sind, mit etwa 40 bis 100 Leuten eine regelmässige Beziehung aufrecht zu erhalten. Das entspricht etwa der frühhistorischen sozialen Gruppengrösse, etwa in einem Tal oder Dorf. Mit diesen wenigen Menschen hatte man es zu tun. Die konnte man kennen – und musste man kennen. Denn Freund und Feind voneinander unterscheiden zu können, war lebensnotwendig oder unter Umständen gar lebensrettend. Lassen wir es also mal bei diesen drei Aspekten. Zu einer Freundschaft gehören echte Begegnung, Wechselseitigkeit und nahestehende Verbundenheit. II Gott schliesst Freundschaft Wenden wir uns nun unserem Psalmabschnitt zu. Kann ich so von Gott reden? Dass er eine Freundschaft mit uns Menschen geschlossen hat? Mit mir? Ist das nicht irgendwie despektierlich? Im grossen Bogen der Geschichte Gottes mit seinen Menschen denken wir hier wohl an den Bundesschluss. Den Bund, den Gott immer mal wieder erneuert hat. Weil er immer wieder -wir hier sagen können- die Freundschaft mit den Menschen gesucht hat. Freund und Freundschaft sind durchaus biblische Begriffe, schon im Alten Testament. Nicht nur im generellen, grossen Bundesgedanken. Auch als ganz persönliche 1:1 Beziehung. Bei Jesaja etwa lesen wir, dass Gott mit Abraham Freundschaft geschlossen hat. Es heisst da: “Du aber, Israel, mein Diener, Jakob, den ich erwählt habe, Nachkomme Abrahams, meines Freundes.” (Jesaja 41,8). Gott sucht immer wieder die Freundschaft. Zu seinen Geschöpfen, zu seinem Volk, zu mir – und zu dir. III Jesus unser Freund Nicht zuletzt, oder besser als Höhepunkt, indem er in seinem Sohn Jesus Christus in diese Welt kommt. Eine eindrückliche Rede im Kreis seiner Jünger will ich hier vorlesen. Im 15. Kapitel des Johannesevangeliums heisst es: 12 Das ist mein Gebot: Dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe. 13 Niemand hat grössere Liebe als wer sein Leben einsetzt für seine Freunde. 14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. 15 Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiss nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt, weil ich euch alles kundgetan habe, was ich von meinem Vater gehört habe. 16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt, damit euch der Vater gibt, worum ihr ihn in meinem Namen bittet. 17 Dies gebiete ich euch: dass ihr einander liebt. Einerseits wunderschön. Aber auch ein recht starkes Stück. Jesus nennt hier seine Jünger “Freunde”. Freund wird man durch gegenseitige Liebe. Aber diese Freundschaft, diese Liebe hat auch ihren Preis. Zu jeder Freundschaft gehören auch Dinge, die vielleicht nicht so toll sind. Gehören auch Zeiten, wo es schwierig ist. Jesus redet sogar davon, dass es nicht nur “ans Lebendige gehen kann”, wie man so sagt, wenn’s ganz wichtig wird, sondern einen sogar tatsächlich das Leben kosten kann. Ich weiss ehrlich gesagt nicht, ob ich in einer Freundschaft hier auf Erden oder auch in meiner Freundschaft mit Jesus, auf dem Weg der Nachfolge, so weit gehen könnte, dass ich mein Leben auf’s Spiel setzen würde. Glücklicherweise war das bei mir noch nie der Fall, dass so eine Situation aufgetreten ist. Aber wenn ich an meinen Barbier denke, der sich immer mal wieder um meinen grauen Bart kümmert, ein junger 21-jähriger Flüchtling aus Syrien, der könnte vielleicht anderes erzählen. Es muss ja nicht grad so hart auf hart gehen. Aber ein wichtiger Grund, dass viele Leute Mühe haben, echte Freundschaften aufzubauen, ist schon, dass es heute schwer fällt, auch mal Schwierigkeiten und Krisen durchzustehen. Als Beispiel aus meinem Leben ist mir ein kurzes Gespräch mit einem jungen Mann in den Sinn gekommen. Ich hatte ihm erzählt, dass wenn ich mit einem guten Freund von mir in die Ferien gehe, es fast jedes Mal eine ziemliche Krise gibt. Einen ganz schwierigen Moment. Erstaunt fragte er mich darauf: “Warum seid Ihr dann Freunde?” – Was mich wiederum völlig erstaunt, ja fast entsetzt hat. Das ist doch die völlig falsche Frage. Eine gute Frage wäre doch: “Was macht Ihr, dass so eine Krise nicht mehr, oder wenigstens nicht mehr so oft vorkommt?” Jesus sagt, dass wir seine Freunde sind, wenn wir tun, was er gebietet. Wir wissen aber, was er gebietet – und warum er das tut. Kurz zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe. Und im Missionsauftrag. Also ungefähr so: Liebt Gott über alles und liebt Euren Nächsten wie Euch selbst. Und dann: geht hin und erzählt es den anderen und schaut, dass auch sie Christen werden. Dieser Auftrag ist gewiss nicht einfach. Aber er liegt offen auf dem Tisch. Und drum ist eben Christsein, ist Nachfolge nicht Knechtschaft. Sondern Freundschaft. Auf geheimnisvolle Weise hat Jesus mit uns allen hier schon einen Anfang gemacht. Mir scheint immer der Anfang schwer, wie schon das Sprichwort sagt. Aber eben: dieser Anfang ist gemacht. Jesus ist schon längst auf uns zugekommen. Sonst wären wir heute Vormittag nicht hier. Jetzt liegt’s an uns, diese Begegnung anzunehmen und weiter zu pflegen. Antwort zu geben auf seinen Ruf. So dass eine wechselseitige Beziehung entsteht. In immer tieferer, immer näherer Verbundenheit. Und dann wäre es doch schön, wenn wir wie der Psalmbeter sagen könnten: “Uf miich töörfsch zele.” Auf mich darfst Du zählen. Mit mir darfst Du rechnen. Denn die Freundschaft ist wechselseitig. Gott schützt und bewahrt auch. Darf er auf uns zählen? Beim natürlichen, selbstverständlichen Bekennen am Arbeitsplatz? Wenn wir unspektakulär treu da sind für kranke Nachbarn? Schweigend mit-joggen, wenn unser Freund in einer psychischen Krise ist? Zum Aushalten und Neu-Anfangen wenn’s im Studium, am Arbeitsplatz, in der Familie oder Ehe Krach gegeben hat? Wenn ich mal wieder in der Bibel lesen will, um ihn besser kennenzulernen? Darf Jesus auf Dich zählen? Ich für mich will diesen Satz ganz bewusst heute neu sagen: Uf miich töörfsch zele, Jesus! Das wünsche mir für mich und für uns alle. Es gibt noch so viele Menschen, die von diesem Freund aller Freunde nichts wissen. Und wie schön wäre es doch, nicht mehr Knecht zu sein, sondern Freund. Amen. Postludium: Martin A. Seidl: Praeludium et Fuga ex e-Moll von Johann Caspar Ferdinand Fischer (1656 – 1746) |