Gottesdienst aus der ref. Erlöserkirche,
Wien-Favoriten, am 13. November 2022,
mit Dr. Ulrich Körtner
Präludium : Juliane Schleehahn: Allegro moderato maestro von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847)
Die Geburtsstunde der Diakonie
Predigt über Apostelgeschichte 6,1-7
Liebe Gemeinde!
Das Diakonium ist seit etlichen Jahren ein fester Bestandteil unserer Gemeindearbeit. Die Gründung dieses Gremiums in unserer Gemeinde ist sogar die Geburtsstunde des in unserer Evangelischen Kirche H.B. erneuerten Diakonenamtes. Auf Initiative unserer Gemeinde, genauer gesagt, auf Initiative unseres Pfarrers Johannes Wittich, hat unsere Kirche mit dem Kirchengesetz vom 28.Dezember 2009 hat das Amt des Diakons neu eingeführt. Sie knüpft damit an die Lehre Calvins an, wonach vier Ämter nach neutestamentlichem Zeugnis für die christliche Gemeinde wesentlich sind: das Predigtamt, das Lehramt, das Amt der Gemeindeleitung und das diakonische Amt. So sah es auch die Gemeindeordnung in Genf vor.
Predigtamt und Amt des Lehrers sind im Laufe der Zeit miteinander verschmolzen. Die Aufgabe der Gemeindeleitung obliegt dem Presbyterium und auf überregionaler Ebene der Synode. So kennen wir es seit Generationen. Dass es aber neben Pfarramt und Presbyteramt auch noch ein eigenes Diakonenamt geben soll, ist bei uns für längere Zeit in Vergessenheit geraten. Nicht, dass es nicht immer schon diakonische Aktivitäten in unserer Gemeinde und in unserer Kirche gegeben hätte. Ich denke beispielsweise an den Besuchskreis, der schon seit vielen Jahren besteht. Aber im Zuge der Professionalisierung der Diakonie, unter der die soziale Arbeit der Kirche zu verstehen ist, hat sich die Diakonie streckenweise von den Ortsgemeinden gelöst und dem ehrenamtlichen Engagement an der Basis gelöst. Dabei heißt es doch ganz zu Recht, dass die Diakonie eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche ist – und zwar auf allen Ebenen. Also nicht nur in Gestalt der großen Werke und Verbände. Dass die Diakonie aber aus dem Leben der Ortsgemeinden nicht wegzudenken ist, lernen wir schon aus dem Neuen Testament, und hier besonders bei Evangelisten Lukas. Im 6. Kapitel seiner Apostelgeschichte erzählt er:
In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.
(Luther 2017)
Was Lukas hier berichtet, ist gewissermaßen die Geburtsstunde der Diakonie. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Denn wo Luther in seiner Übersetzung vom Tischdienst spricht, steht im griechischen Urtext „diakonein“. „Diakonie“ heißt im Griechischen der Tischdienst oder auch ganz allgemein die Dienstleistung. Ein Diakon ist im Griechischen soviel wie ein Tischdiener oder Helfer. Wie es aber dazu kam, daß ausgerechnet diese Ausdrücke zur Gesamtbezeichnung für das Handeln aufsteigen konnten, das wir heute – jedenfalls in der evangelischen Kirche – als Diakonie bezeichnen, versteht man, wenn man die Vorgeschichte aus der Apostelgeschichte kennt.
Wie auch in der späteren Geschichte der Diakonie steht an ihrem Beginn in der Jerusalemer Urgemeinde ein konkreter Anlaßfall, eine ganz konkrete Not, mehr noch: sogar ein innergemeindlicher Konflikt. Seit Pfingsten war die erste Christengemeinde rasch angewachsen. Nicht nur Juden aus Jerusalem ließen sich taufen, sondern auch solche aus jüdischen Diasporagemeinden, die es im ganzen römischen Reich gab. Diese Diasporajuden sprachen überwiegend Griechisch – gewissermaßen das Englisch der Antike, die internationale Verkehrssprache. Aus diesem Grund nannte man sie auch „Hellenisten“, so wie man die in Palästina ansässigen oder mit Palästina besonders verbundenen Juden, die aramäisch sprachen, als „Hebräer“ bezeichnete.
Wenn man der Apostelgeschichte glauben darf, wurden Menschen aus allen Winkeln des römischen Reiches Zeugen des Pfingstwunders. Viele von ihnen ließen sich nach der Predigt des Petrus spontan taufen. Anfangs, so weiß Lukas zu berichten, waren die ersten Christen in Jerusalem ein Herz und eine Seele. Sie bildeten eine Gemeinschaft, in der aller Besitz miteinander geteilt wurde. Die Gemeindeglieder verkauften ihren Grundbesitz und ihr bewegliches Hab und Gut und verteilten den Erlös unter allen, jeden nach persönlicher Bedürftigkeit. Gelegentlich hat man dieses Lebensmodell auch als urchristlichen Liebeskommunismus bezeichnet.
Immer wieder hat es in der Geschichte des Christentums Versuche gegeben, ein Gemeinschaftsleben nach diesem Modell aus der Apostelgeschichte aufzubauen. Nicht nur das traditionelle Mönchtum, sondern auch andere christliche Kommunitäten haben sich die Jerusalemer Urgemeinde zum Vorbild genommen. In einer Welt, die nur Egoismus und materielles Besitzstreben kennt, sind solche Lebensmodelle als kritische Anfrage zu verstehen. Zeichenhaft soll das Reich Gottes erkennbar werden, in dem eine neue Gerechtigkeit herrscht und in dem nicht länger das Recht des Stärkeren gilt, der die Schwachen unterdrückt und ausbeutet.
Diakonie hat darum immer auch eine politische Dimension, ohne sich parteipolitisch festzulegen. Sie praktiziert eben nicht nur Barmherzigkeit und fordert nicht nur Almosen für die Armen und Notleidenden, sondern Gerechtigkeit. Freilich eine Gerechtigkeit, die sich nach Gottes Maßstäben richtet und den Armen und Hilfsbedürftigen Vorrang gibt.
Sinnfällig wurde und wird die Gottesherrschaft, die Jesus verkündigt hat, in der Tischgemeinschaft. Jesus aß mit Zöllnern, mit Sündern und Ausgestoßenen. In seinen Gleichnissen hat er das Reich Gottes mit einem großen Fest verglichen, zu dem ein König die Menschen von den Hecken und Zäunen einlädt. An der Festtafel Gottes gibt es keine Rangunterschiede, sondern vor ihm sind alle Menschen gleich. Alle sind sie in gleicher Weise Sünder, die auf seine Gnade angewiesen sind. Ihnen allen gilt seine Liebe und sein Verzeihen, ohne daß sie es sich als ihr Verdienst zurechnen dürften.
Sinnbildlich erfahrbar wird die Tischgemeinschaft Gottes im Abendmahl, in welchem sich die Tischgemeinschaft des irdischen Jesus fortsetzt. Jedes Abendmahl ist ein Vorschein der Gottesherrschaft, in der alle sozialen Unterschiede aufgehoben und alle menschliche Not überwunden ist.
Darum darf das Abendmahl nicht spiritualisiert werden, so als ginge es dem christlichen Glauben nur um die religiöse Innerlichkeit des Menschen. Das Abendmahl läßt uns schmecken und fühlen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von der Liebe und Zuwendung Gottes. Aber Gottes Sorge für seine Geschöpfe schließt die Sorge um das tägliche Brot ein, ganz so, wie im Vaterunser neben der Bitte um das Kommen des Gottesreiches und der Bitte um die Vergebung unserer Schuld die Bitte um das tägliche Brot steht. Die Gemeinschaft der Christen beim Abendmahl wäre daher unglaubwürdig, wenn sie nicht in der Sorge um die Bedürftigen und ihre leiblichen Nöte ihre Fortsetzung im Alltag fände. Christliches Zeugnis, Liturgie und Diakonie gehören darum unauflöslich zusammen.
Konkret zeigt sich das in unserer Gemeinde daran, dass das Diakonium nicht nur den Abendmahlstisch herrichtet, sondern auch das Projekt der Caritas Le+O (Lebensmittel und Orientierung) fördert. Hier finden die Ausgabe von Lebensmitteln und kostenlose Beratungsgespräche für Armutsbetroffene statt. Benachteiligten Menschen vor allem in den Regionen Afrika, Asien, sowie Lateinamerika und Karibik wird mit Oikocredit ein Weg aus der Armut geboten. Oikocredit ist ein Verein für ethische Geldanlagen.
Was die innere Verbindung von Gottesdienstfeier und Diakonie betrifft, stand freilich schon bald in der Jerusalemer Urgemeinde nicht mehr alles zum Besten. Zwar hatte man eine gemeinsame Armen- und Witwenfürsorge aufgebaut. Bald kam es jedoch offenkundig zu Spannungen zwischen den einheimischen Gemeindegliedern und den sogenannten Hellenisten, also jenen Griechisch sprechenden Judenchristen aus der Diaspora, von denen ich bereits gesprochen habe. Deren Witwen wurden bei der täglichen Speisung regelmäßig übersehen. Darüber kam es schließlich zwischen Hellenisten und Hebräern, zwischen Zugereisten und Einheimischen, zum offenen Streit.
Wie Lukas berichtet, beriefen die zwölf Apostel daraufhin eine Vollversammlung der Gemeinde ein und unterbreiteten den Vorschlag, sieben Armenpfleger zu wählen, die den Tischdienst bei der täglichen Speisung organisieren und für Gerechtigkeit bei der Versorgung der Bedürftigen sorgen sollten.
Der Vorschlag findet die Zustimmung der Gemeinde. Die sieben für den Dienst der täglichen Speisung Gewählten – sämtlich sogenannte Hellenisten – werden durch die Apostel unter Auflegung der Hände und unter Gebet in ihr neues Amt eingeführt, also gewissermaßen ordiniert. Der Konflikt scheint damit beigelegt.
Drei Dinge sind an der Schilderung des Lukas bemerkenswert. Erstens fällt auf, daß Menschen für den Tischdienst – wir können auch sagen: für eine diakonische Aufgabe – regelrecht ordiniert werden. Das besagt doch, daß nicht nur der Dienst der Verkündigung oder das Pfarramt, sondern daß auch das diakonische Handeln ein geistliches Amt ist. Dazu paßt, daß nach Paulus der Geist Gottes in ganz unterschiedlichen Gaben und Begabungen wirksam wird. Das Leben und Gedeihen der christlichen Gemeinde braucht die Vielfalt unserer Gaben und Talente. Jede und jeder von uns kann auf seine Weise zum Gemeindeleben und auch zum diakonischen Auftrag der Kirche beitragen. Um gleich beim Tischdienst zu bleiben: Auch der gemeinsame Kirchenkaffee im Anschluß an den Gottesdienst ist ein durchaus geistliches Amt, fördert doch auch diese Tischgemeinschaft den Zusammenhalt. Und auch darin dürfen wir ein Zeichen der verheißenen Gottesherrschaft sehen.
Schon die Reformatoren, auch Luther, haben von Anfang an betont, daß die verschiedenen Ämter in der Kirche ihre Begründung im Priestertum aller Gläubigen haben. Zu diesem Priestertum werden wir durch die Taufe berufen. So sollen wir alle uns immer wieder auf unsere Taufe und unser allgemeines Priestertum besinnen und fragen, was wir zum Leben und Zeugnis der Kirche in unserer Welt beitragen können. Welche Begabungen habe ich? Wo ist mein Engagement gefragt?
Das führt mich zu einer zweiten Beobachtung. Die sieben Diakone werden zwar durch die Apostel in ihr neues Amt eingeführt. Die Schilderung des Lukas ist aber nicht so zu verstehen, als solle eine kirchliche Hierarchie begründet werden, wie sie z.B. die römisch-katholische Kirche kennt. Weil alle Christinnen und Christen durch die Taufe zum Priestertum berufen sind, gibt es keine Unterscheidung zwischen Geweihten und sogenannten Laien und keine Ämterhierarchie. Es ist ja die ganze Gemeinde, welche die zum Tischdienst bestellten Diakone wählt, und diese Wahl wird von den Aposteln durch Handauflegung und Gebet feierlich bestätigt.
Damit komme ich schließlich zu einer dritten Beobachtung. Das griechische Wort „diakonein“ wir von Lukas sowohl für den Tischdienst, also die Armenpflege, als auch für den Verkündigungsdienst der Apostel gebraucht. Der griechische Text spricht einerseits von der „Diakonie“ am Tisch und andererseits von der „Diakonie“ am Wort. Auch Paulus kann von der Diakonie, vom Dienst am Evangelium sprechen. Mit gleichem Recht, mit dem wir vom Priestertum aller Gläubigen sprechen, können und müssen wir auch vom Diakonat oder vom diakonischen Auftrag aller Gläubigen sprechen.
Das meinte wohl Johann Hinrich Wichern, einer der Begründer der modernen evangelischen Diakonie im 19. Jahrhundert, als er seine Rede auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 in dem Aufruf gipfeln ließ: „Die Liebe gehört mir ebenso wie der Glaube.“ Das war die Geburtsstunde der Inneren Mission, die später in „Diakonisches Werk“ umbenannt wurde.
Der Glaube genügt nicht sich selbst, sondern er soll in der Nächstenliebe praktisch werden. Diakonie aber ist nichts anderes als organisierte Nächstenliebe. Den sozialen Herausforderungen von heute können wir nicht allein mit spontanen Akten der Nächstenliebe wirksam begegnen. Sie verlangen vielmehr nach strukturellen Antworten. Diakonie ist darum heute nicht nur ein Teil der Zivilgesellschaft. Sie hat sich auch zu modernen Dienstleistungsunternehmen entwickelt.
Der erste Diakon aber, gewissermaßen das Urbild aller Diakone, ist Jesus selbst, der die Mühseligen und Beladenen an seinen Tisch lud, mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl vor seiner Verhaftung und Hinrichtung feierte und ihnen diente. Weil er auch uns dient und in seinen Dienst ruft, sollen auch wir das Diakonat aller Gläubigen in unserem Alltag praktizieren, jede und jeder auf seine Weise und an seinem Ort. Das kann konkret die Spende für ein bestimmtes diakonisches Projekt, für Menschen in Not sein. Das kann aber auch der Besuch bei einer kranken Nachbarin sein oder eine Aufgabe, die ich jemandem abnehme, der Hilfe braucht.
Am Ende unserer Geschichte aus der Apostelgeschichte heißt es: „Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem.“ Jesus hat die anbrechende Gottesherrschaft einmal mit einem unscheinbaren Senfkorn verglichen, aus dem ein großer Baum wird. Auch der Dienst am Nächsten und der Einsatz für Gottes Gerechtigkeit beginnen im Kleinen und haben doch eine große Verheißung.