Gottesdienst zum 2. Advent
aus der reformierten Erlöserkirche,
Wien-Favoriten am 5. Dezember 2021,
mit Ulrike Wittich
Orgelvorspiel: Juliane SchleehahnLied: Evangelisches Gesangbuch 11, 1,4,5,7: Wie soll ich dich empfangen1) Wie soll ich dich empfangen 4) Ich lag in schweren Banden, 5) Nichts, nichts hat dich getrieben 7) Ihr dürft euch nicht bemühen Begrüßung und Spruch:Steht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Mit diesem Vers aus dem Lukas-Evangelium (21,28) begrüße ich Sie und euch alle hier jetzt zum Gottesdienst. Ein passender Vers zum 2. Advent, ein passender Vers in unsere trübe, bedrückte Zeit hinein. Nein, es ist nicht einfach, den Kopf über Wasser zu halten und positiv in die Welt zu schauen. Die Pandemie zehrt an uns allen und wen macht sie nicht zuweilen trübsinnig und grantig? Wann nimmt das alles ein Ende, was wird die Zukunft bringen? Auf unseren Schultern liegt eine Last. Die macht es schwer, das Haupt zu erheben. Unsere Erlösung naht? Wann denn bitte? Manchmal muss einfach geraunzt werden, gejammert und geklagt. Unter uns und vor Gott. Das darf man. Das tun die Menschen der Bibel auch. Aber nicht nur. Denn der Monatsspruch für Dezember verspricht: Gott kommt zu uns. Was wir ihm sagen wollen, beten wir mit Worten nach dem 69. Psalm: (Gute Nachricht) Hilf mir, Gott! Die Flut geht mir bis an die Kehle! Lesung: Jak 5, 7-11 (Auswahl) aus dem Neuen Testament:Jakobus erinnert hier die auf die Wiederkunft Jesu Wartenden an die Sehnsucht der alttestamentlichen Propheten auf Erlösung: Liebe Brüder und Schwestern, haltet geduldig aus, bis der Herr kommt. Seht, wie der Bauer voller Geduld auf die kostbare Frucht der Erde wartet. Er weiß, dass sie zum Wachsen den Regen braucht. Auch Ihr müsst geduldig ausharren. Fasst Mut, denn der Tag, an dem der Herr kommt, ist nahe. Klagt nicht übereinander, (…). Sondern nehmt euch ein Beispiel an den Propheten, die im Auftrag Gottes geredet haben. Nehmt euch ein Beispiel daran, wie standhaft sie alles ertrugen, was man ihnen antat. Sie alle, die durchgehalten haben, preisen wir glücklich. (…) Denn Gott ist voller Liebe und Erbarmen. Lied: Evangelisches Gesangbuch 7, 1,4-6: O Heiland reiß den Himmel auf1) O Heiland, reiß die Himmel auf, 4) Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, 5) O klare Sonn, du schöner Stern, 6) Hier leiden wir die größte Not, Predigttext: Jes. 63,15 – 64,3 (Lutherbibel):15So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. 16Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. 17Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! 18Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. 19Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, 641wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, 2wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! 3Von alters her hat man es nicht vernommen, kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren. Predigt:Gnade sei mit uns von dem, der da war, der da ist und der wieder kommt. Was für ein Text! Gar nicht erbaulich. Keine warme, hoffnungsvolle Adventsstimmung. Letzten Sonntag hatte Jesaja noch eine tröstliche Botschaft für uns: Finsternis bedeckt die Erde und Dunkelheit die Völker. Aber dein Licht kommt!. Heute ganz das Gegenteil: Was für ein Aufschrei! Jesaja hat offenbar gründlich genug. Gründlich genug von der Situation, der Krise, in der er lebt. Er ist in einem Elend, in dem er den Überblick verliert über alles. Ein Rundumschlag aus Verzweiflung, Schmerz, Wut über Gott und die Welt. Das muss raus! Wie auch immer! Da ist nur noch der eine Wunsch: dass es endlich aufhört, das Elend und er wütet: „Schau vom Himmel, Gott, komm herab, zerreiß den Himmel! Zeig doch endlich deine Stärke und Macht! Wie Feuer und Erdbeben, das die Feinde zittern macht. Tu Furchtbares! Mach Angst denen, die uns bedrohen.“ Zerreißen, entzünden, zerfließen lassen: was für Gewaltphantasien! Und sowas steht in der Bibel. Befremdlich, vielleicht auch abstoßend. Wie redet der mit Gott? Den Schrei nach Gott, den kann man ja noch gut nachfühlen, aber den Ruf nach Rache und Vergeltung …? Wie war das noch mit dem ‚Selig sind die Frieden stiften‘ …? Ja, ich fand den Text auch erst sehr befremdlich, besonders das Gottesbild: diese Vorstellung vom gewalttätigen, rächenden Gott. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann sind mir Strafphantasien und Rachegelüste auch manchmal gar nicht so fern. Kommt halt auf die Situation an. Die Situation: Bei Jesaja war es die Erfahrung von Fremdherrschaft, Vernichtung, Verbannung. Er schreib diesen Text zwischen 520 und 510 vor Christus. Im Jahr 586 vor Christus hatte der babylonische König Nebukadnezar das Land überfallen, Jerusalem und den Tempel zerstört und Teile des Volkes nach Babylon verschleppt. Vorbei das gewohnte, normale Leben. Der Himmel war finster, die Zukunft wolkenverhangen. Wie sollte es weitergehen, auch mit dem Glauben? Würde es jemals wieder so sein wie früher? Und dann stellten sie fest: Wir können auch ohne Tempel glauben. Was uns trägt sind die Geschichten von Gott und seine Gebote. Später wurde dann doch der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut. War jetzt alles wieder so wie früher? Oder hatte die Erfahrung des Exils irgendwelche Eindrücke hinterlassen? Offenbar meinte Jesaja dass man in puncto Glauben nichts dazugelernt hatte, das Bestand hatte. Alte Missstände und soziale Ungerechtigkeit hatten sich wieder eingeschlichen. Und da platzt ihm der Kragen. Soweit zur Situation damals. Strafphantasien und Rachegelüste sind auch mir manchmal nicht soo fern. Kommt auf die Situation an: Vielleicht gibt es auch bei uns manchmal, Situationen, die der des Jesaja ein bisschen ähnlich ist. Manchmal? Oder vielleicht gerade jetzt? Spüren wir ein bisschen in uns hinein. Schon viel zu lange leben wir in der Verbannung, die Krise, die Pandemie ist noch immer nicht vorbei. Immer neue Wellen. Kein Ende in Sicht. Kein Licht am Ende des Tunnels. Am Anfang, damals vor 1 ½ Jahren da waren wir optimistisch und geduldig. Wir waren kreativ, hilfsbereit und einander zugewandt. Wir hatten ein starkes Gefühl von Verbundenheit: „Auch, wenn es gerade unbequem ist und der Alltag beschwerlich: Gemeinsam schaffen wir das. Diese Durststrecke werden wir hinter uns bringen und das Leben wieder genießen.“ Wie hoffnungsvoll wir da noch waren! Das war ein sehr, sehr gutes Gefühl. Und jetzt? Jetzt ist es anders. Es nimmt kein Ende. Und nicht nur das. Vielleicht wird es sogar noch schlimmer. Auf was werden wir uns noch alles einstellen müssen? Wird es jemals wieder wie früher sein? Wir sind es leid. Wir sind genervt. Es zehrt. Auch an unserer Menschenfreundlichkeit. Ein Gefühl von Spaltung verdrängt die Verbundenheit. Die Aggression wird mehr. Das liest man sogar in den Medien. Aggression, nicht nur auf Demonstrationen. Auf beiden Seiten. Schreiduelle statt sachlicher, respektvoller Diskussion. Protestreiche Tumulte vor Spitälern. Es geht um die Sache, ja, aber nicht um die gemeinsame Suche nach Auswegen, sondern– so kommt es mir vor – um’s Rechthaben, um Kampf. Mitunter auf allen Seiten. Und ganz heimlich, ohne dass wir es gern laut sagen würden, kommen da auch manchmal diese kleinen Rachegelüste, die wir nicht wirklich zugeben und wir uns öffentlich natürlich sofort verbieten (und natürlich rede ich jetzt nur von mir): Eine kleine heimliche Schadenfreude, wenn es einen vehementen Leugner erwischt, Ärger und Wut auf Maßnahmenverweigerer, Sorge und Angst, wenn die Zuteilung von Intensivbetten abgewägt werden muss, und so etwas wie gehässige Ironie gegenüber selbsternannten Virologen und der von ihnen empfohlenen Medikation. Wütende Hilflosigkeit gegenüber zur Schau gestellter Selbstbezogenheit. Ja, auch die Witze sind böser geworden. Wie ich. Ich werde auch böser. Und ich will das nicht. Es nützt nichts und tut mir und anderen nicht gut. Und Gott auch nicht. Es trennt, uns voneinander und von Gott. Ist es das, was Jesaja als Abirrung von Gott und Verstockung beschreibt? Als Sünde also? Ich kenne das Gefühl des Jesaja, auch aus anderen herausfordernden Situationen: Es reicht! Reiß den Himmel auf! Mach End, oh Herr, mach Ende… wo steht das nochmal? Manchmal muss man es einfach – sorry! – rauskotzen. Wut, Sorge, Rachephantasien. Heimlich für sich selbst und auch offen gegenüber Gott. So, wie Jesaja. Sein Ausbruch ist, so denke ich, kein Wunsch nach einem gewalttätigen, rächenden Gott, sondern der Ausdruck einer tiefen Verzweiflung. Jesaja hadert nicht mit Gott, sondern wirft ihm sozusagen alles vor die Füße. Er tobt und klagt, mit dem Blick zu Gott hin. Auch im Bewusstsein eigener Sünden und der Entfernung von Gott. Trotzdem hält Jesaja an Gott fest, so wie so viele klagende Psalmbeter. Denn da stehen ja nicht nur Wutsätze. ‚Unser Erlöser, das ist von alters her dein Name.‘ (V.16 b), ‚der so wohltut denen, die auf ihn harren.‘ (V. 3b). Auch im weiteren Text geht es noch ein bisschen hin und her zwischen Klage und Hoffnung. Und immer mischen sich vertrauensvolle Sätze ins Hadern. Vers 4: ‚Du begegnest denen, die Gerechtigkeit üben und auf deinen Wegen deiner gedenken.‘- Denen, die ihren Ärger und ihre Strafphantasien eben nicht ausleben – möchte ich ergänzen. Vers 7: ‚Du bist doch unser Vater! Wir sind Ton, du bist unser Töpfer, und wir alle sind deiner Hände Werk.‘ Es ist, als ob Jesaja in all seinen Klagen die Grundfesten seines Glaubens heraufbeschwört. Daran hält er sich fest. Das hilft. Auch uns. Nein, nichts ändert sich dadurch an der Situation. Aber vielleicht klärt sich so der Blick und die Seele wird sanfter und Menschenfreundlichkeit zieht ein. Also steht auf und erhebt eure Häupter! Denn Gott will bei uns wohnen! Amen. Lied: Evangelisches Gesangbuch 16, 1; 4-5: Die Nacht ist vorgedrungen1) Die Nacht ist vorgedrungen, 4) Noch manche Nacht wird fallen 5) Gott will im Dunkel wohnen Gebet:Guter Gott, Unser Vater im Himmel … Lied: Evangelisches Gesangbuch 361, 1-3: Befiehl du deine Wegen1) BEFIEHL du deine Wege 2) DEM HERREN musst du trauen, 3) DEIN ewge Treu und Gnade, Abkündigungen:Segen:Gott sei vor uns, um uns den Weg zu zeigen, Lied: Evangelisches Gesangbuch 361, 6 + 12: Befiehl du deine Wege6) HOFF, o du arme Seele, 12) MACH END, o Herr, mach Ende Orgelnachspiel: Juliane Schleehahn: Praeludium in g-Moll von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)
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